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Literatur und Künsten verstanden — nicht mehr als etwas Selbstverständli-
ches hinnehmen oder mit Bildung verwechseln. Aufs Äquivalent von Bil-
dung reduziert, verströmt »Kultur« heute etwas Altväterlich-Bürokratisches
und fristet ein öffentlich subventioniertes Scheinleben. Als Äquivalent des
Marktes indes ist sie längst Stoff für eine gigantische Unterhaltungsindu-
strie, auf die sich - unter dem Schlagwort »Praxisorientierung« - langsam,
aber sicher die Zielvorstellungen der Studienreformer einpendeln.5

Seit dem Kulturboom der 80er Jahre ist hier manches in Gang gekom-
men, was dem traditionell ausgebildeten Philologen nicht ganz geheuer
erscheint. Die Irritation zu beruhigen - was nicht unbedingt das Beste
sein muß — würde wahrscheinlich einen erheblichen Theorieaufwand erfor-
dern, vor dem die Verfallsdaten konventioneller Opiate neu sortiert werden
müßten. Ich kann mich im folgenden dem Komplex nur annähern und
versuche das in Form von Anmerkungen, die dem Rechnung tragen wol-
len, was ich den »experimentellen Zustand« nenne und für eine passende
Beschreibung des geordneten Durcheinanders halte, das sich Literaturwis-
senschaft nennt. Mein Versuch gilt daher vorab Unterscheidungen, die den
wissenschaftshistorischen und -theoretischen Rahmen der philologischen
Disziplinen betreffen. Hier ist das Ziel die Vergegenwärtigung älterer, nicht
unbekannter, aber vielleicht zu unrecht vergessener Problemlagen. Denn
das so diffus sich ausbreitende Fahnenwort »Kulturwissenschaft« hat eine
Geschichte, deren Studium, soll es genauer bestimmt werden, sich alle-
mal auszahlt. Von einer Renaissance spreche ich daher nicht im Sinne der
Wiedergeburt, sondern um jene Komplexitätssteigerung durch Wiederan-
knüpfen zu bezeichnen, die sich selber als Teil des Kulturwandels verste-
hen darf. Ein letzter, nur andeutungsweise ausgeführter Schritt wird mich
dann zu dem fuhren, was sich als »Rückkopplungseffekt« bezeichnen läßt,
nämlich die Stärkung literaturkritischer Konzepte auf ihrem Weg durch
die Gravitationsfelder kulturanalytischer Fragestellungen. Mein Verfahren
wählt einen problemgeschichtlichen Fluchtpunkt, die Darstellung bleibt,
so abschreckend das klingt, rein theoretisch.

Diltheys Wahl

In der 1883 zum erstenmal erschienenen Einleitung in die Geisteswissen-
schaften rechtfertigte Dilthey - um auf ihn wieder zurückzukommen —
seinen epochemachenden Grundlegungsversuch mit einem inner- und ei-
nem außerwissenschaftlichen Argument. Zum einen liest er am avancier-
ten Stand der naturwissenschaftlichen Theoriebildung und Methodologie
die Gefahr einer unzulässigen Übertragung positivistischer Verfahren auf

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