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Karl Yossler

die prinzipielle Auffassung dev übrigen Christenheit, sondern es war nur
ein Ausfluss seiner poetisch angelegten Stimmung. Die grosse Evolu-
tion und Revolution, welche für die Kunstgeschichte mit der Entdeckung
der Schönheit des menschlichen Körpers beginnt, fällt nicht ins 13.,
sondern ins 15. Jahrhundert, und Francesco d’Assisi ist daran gar nicht,
Dante nur von ferne beteiligt.“ *)

Es wiederholt sich immer dasselbe Schauspiel: neben den mittel-
alterlichen Grundanschauungen kann man einen modernen Sinn für dar-
stellende Kunst bei Dante einesteils in vereinzelten Äusserungen finden,
wie in dem berühmten Worte : „Poi. chi pinge figura, se non puö esser
lei, non la puö porre; onde nullo dipintore potrebbe porre alcuna figura,
se intenzionalmente non si facesse prima tale, quäle la figura esser dee“
(Conviv. IV, 10), d. h. in moderne Sprache übersetzt: Das Bild muss
erlebt sein. Andererseits offenbart sich ein moderner Sinn für Kunst
nur noch in einem Imponderabile, in dem unbewusst Genialen seiner
plastisch sinnlichen Schaffensweise, das sich aufs innigste mit dem
Genius Michelangelos berührt.

Die bedeutungsvollste Spur einer künstlerischen Gesinnung, einer
ästhetisch empfindenden Seele aber verrät sich in jenem unbewussten
Gegensatz, in den der Dichter jeden Augenblick zum Moralisten tritt.
Die Verse, die er einer Francesca, einem Farinata, einem Capaneus und
Ulixes wfidmet, bezeugen es laut genug, dass er eine unbändige und
schlecht verhehlte Freude hat am Kraftmenschen, am ausserordentlichen
Individuum, an der Kühnheit, an der Schönheit, an der Liebe und am
Ruhm. Der grosse Verbrecher aus ganzem Holze steht seinem in-
nersten Instinkt wohl näher als manch zahmer Gast im Himmelreich.
Diese Wertschätzung der Kraft entspricht aber ebenso sehr der ger-
manisch ritterlichen als der antiken Denkungsart; und in der That ver-
mählt sich in Dantes Brust die Seele des alten Hellenen mit der des
alten Germanen; er hat etwas von dem germanisch gesinnten Ghibel-
linen Farinata und von dem rühm- und wissensdurstigen Hellenen Ulixes
in seinem Blute leben; das Innerste in ihm, das Individuum ist ganz
modern und menschlich im besten Sinne des Wortes.

So sahen wir also: vom Mittelalter ist das ganze Denken und
Glauben Alighieris beherrscht; seine Überzeugung, seine Gesinnung ist
eher eine retrospektive als eine fortschrittliche; seine volle Sympathie
gehört den grossen Idealen der Vergangenheit, und die ersten Ansätze

]) Dante, sein Leben und sein Werk, Berlin 1897. S. 549 f.
 
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