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Karl Zangemeister

(geb. 28. November 1837, gest. 8. Juni 1902).J)

Von

J. Wille.

Für die Lebensdauer ist kein Gesetz. Der schwächste Lebensfaden
zieht sich in unerwartete Länge und den stärksten zerschneidet die
Scheere einer Parze, die sich in Widersprüchen zu gefallen scheint.

Die ernste Wahrheit dieser Goethe’schen Worte, diesen Widerspruch
in seiner ganzen Härte fühlen wir heute alle, die wir so zahlreich ver-
sammelt sind, um die Zeichen der Verehrung und Liebe am Sarge eines
teuern Mannes niederzulegen, der an Körper und Geist für uns das Bild
unerschütterlicher Kraft und Stärke war. Denn wenn ich das Wesen
dieses Mannes nur mit einem Worte kurz bezeichnen sollte, so kurz,
wie ers gewohnt war auf zahlreichen Leichensteinen der Vorzeit zu lesen,
die sein scharfer Geist entziffert, so schriebe ich das einfache Wort
Leben unter sein Bildnis.

Es ist mir die schwere Pflicht zuteil geworden, vor den Schatten
des Todes dieses Leben im Sonnenlichte seines Daseins zu betrachten.
Eine schwere Pflicht, weil ich mich dabei der eigensten persönlichen
Erinnerungen und schmerzlichen Empfindungen nicht erwehren kann,
denn mir selbst hat sich mit dem Tode dieses Mannes ein gutes Stück
eigener Lebensgeschichte abgeschlossen. Eine schwere Aufgabe, weil bei
Betrachtung eines solchen Lebens die Fülle bedeutender, eigenartiger
und teurer Züge so mächtig auf mich einströmt, dass sie alle in einer
kurzen Spanne Zeit zu fassen, mir ein Wagnis erscheint. Eine schwere
Aufgabe, weil, eine wichtige Seite dieses Lebens voll zu würdigen, ein
anderer aus unserer Mitte mehr berufen wäre, als ich.

Einen grossen deutschen Gelehrten, eine Zierde des Standes deut-
scher Bibliothekare und einen Mann eigenster und bester Art haben
wir verloren!

1) Gedächtnisrede gehalten bei der akademischen Trauerfeier am 11. Juni
1902 in der Aula der Universität zu Heidelberg.

NEUE HEIDELB. JAHRBUECHEK XI.

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