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Auch in den angelsächsischen Rechtsquellen hat die Sievers’sche Schall-
analyse die metsrische Form aufgedeckt (Beispiel 2).
Sievers hat geradezu für die germanische Rechtsdichtung den Begriff
der Sagdichtung und der Sagverse aufgestellt. Nach ihm enthalten alle
altschwedischen Gesetzbücher Rhythmisches, die Gulatingsbök ist in allem
Wesentlichen metrisch, in den angelsächsischen Gesetzen gehen Prosa und
Verstexte stark durcheinander, die friesischen Landrechte sind durchaus
metrisch. Und auch die deutsche Überlieferung weist wenigstens Bruch-
stücke dieser Dichtgattung auf. Die Rechtssagdichtung war eben für den
mündlichen Vortrag der Gesetze bestimmt, ihre Gebundenheit hat ins-
besondere eine Gedächtnishilfe gebildet.
Als eine Kurzform der Rechtssagdichtung kann man den Spruch, die
Formel bezeichnen. Sie hat die festeste und sicherste Ueberlieferung; sie
ist auch fähig, sich allen Gelegenheiten anzupassen. Als Rechtssprichwort
kann die Formel mehr oder weniger verändert den Rechtswandel von
Jahrhunderten überdauern. Vermöge ihrer Brauchbarkeit kann sie jeder-
zeit neu entstehen.
Die jüngere Schichte von Rechtsversen hebt sich von der älteren
deutlich ab durch ihren literarischen Charakter. Die Stücke dieser Art —
wir begegnen ihnen seit dem Mittelalter — sind belehrend, bisweilen auch
gelehrt, häufig aber belustigende Parodieen. Ihre Entstehung und ihre
schöne Form verdanken sie dem künstlerischen Bedürfnis, der Reim-
freude und dem Zeitgeschmack. Vom Spielmannsvers (Beispiel 103) bis
zum Hexameter (Beispiel 94) finden sich die verschiedensten Versmaße.
Als .gesunkenes Kulturgut“ leben Anklänge noch gegenwärtig auf der tief-
sten Stufe (Beispiele 109) der Literatur.
In der jüngeren Schichte von Rechtsversen zeigt sich, wie nicht anders
zu erwarten, mit dem Einfluß des römischen Rechts auch der Einfluß der
antiken Form. Das sinnfälligste Beispiel für dieses Eindringen fremden
Rechts- und Sprachgutes auch in diesen Bereich sind wohl die Termini
juristarum metrice (Beispiel 94).
Sind die älteren Rechtssagverse der älteren Schicht also im wesent-
lichen unterschieden von den Rechtsreimen der jüngeren Schichte, so fehlt
es doch nicht an Beziehungen und llebergängen. Da ist hinzuweisen auf
die festen Formeln und auf die Rechtssprichwörter. Mit aller Vorsicht
mag hier noch eine Vermutung geäußert werden. Es ist bekannt, daß auf
die Zeit der Rechtssagverse die Zeit folgt, da die Rechtstexte lateinisches
Gewand tragen. Im 13. Jahrhundert wagt sich wieder die heimische
Sprache vor, aber nun nicht mehr in metrischer Gebundenheit, sondern
in Prosa. Wirkt es da nicht wie ein Übergang, wenn der Sachsenspiegel
wenigstens eine gereimte Vorrede bringt, wenn er da und dort auch im
 
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