Seite.
Dienstag, Len 11. Dezenchex 1934
Nr. 284
Der Bamr aus der Bühne
8um KV. Geburtstag Paul Wegeners, des
großen Schauspielers, am 11. Dezember.
Wenn von einem Bauern gesprochen wird,
w ist weder etwas Plumpes noch Beschränktes
gemeint, sondern die Kraft und Wucht, die
elementare Erdhaftigkeit, aber auch die ge-
sunde Schläue, die noch mit Urbildern be-
seelte Phantasie und das klare große Denken.
Aus all diesen Quellen schöpft einer unserer
größten lebenden Schauspieler, gestaltet er sein
Künstlertum. Schon das gemeißelte, breit-
mochige Gesicht zeigt den Ostpreußen, seine
gewaltige Gestalt und das stämmige, schwere
Auftreten ist unvergeßlich.
Paul Wegener hat in Zelten, die dem Fe-
minismus und der Knabenhaftigkeit zu Ver-
salien drohten, seine männliche Art bewahrt.
Wie er 1914 still und in aller Selbstverständ-
lichkeit nach Flandern mit hinauszog und als
Offizier mit beiden Ehrenkreuzen für Tapfer-
keit geschmückt heimkehrte, so blieb er stark
und deutsch auch in Tagen undeutscher Schau-
spielerei. Er ist kein Wandlungskünstler, er
bleibt in jeder Rolle er selbst, aber diese seine
Persönlichkeit schafft die Rollen seines Faches
Ueu. Es sind freilich keine psychologisch zer-
faserten modernen Zivilisationsmänner, die
chm liegen, sondern zyklopische, häufig ins tie-
rische hinabreichende Gestalten, sei es „Holo-
fernes , „Othello" der „Mephisto" und
^Richard III.". Er hat es in einer verflachten
Welt gewagt, das Böse in seiner ganzen Bru-
kalität und Scheußlichkeit mit allem tierischen
Ursprung, aber auch seiner gefährlichen Ver-
schlagenheit darzustellen — und hat es ge-
konnt. Er hat damit gleichsam der Gegen-
Mart einen religiösen Dienst geleistet, denn
Mie oft konnten wir es erleben/ daß eine „jen-
seits von Gut und Böse" lebende großstäd-
tische Eleganz sine unheimliche Ahnung von
öex Existenz des Bösen und seiner dämoni-
schen Gefahr überlief.
Es brauchte nicht gerade sein tievisch-bruta--
ker Mephisto zu sein, oder das fauchende, von
unbezähmbarer Wut getriebene Tier Franz
Moor. Auch in Gogols „Revisor" oder im
„Alba" entpuppte sich die ganze Häßlichkeit
niederer menschlicher Gesinnung.
Auch gleichzeitig hat Wegener uns die
derbe, aber gesunde Komik und Schalkhaftig-
keit Breugelscher Art erhalten, eine feiste,
sinnlich breite Fröhlichkeit, die auch wieder
schwere, würzige Landluft mit seinem „Fal-
staff" oder „Merkutio" auf die Bühne wehte.
Wenn der Künstler sich in seinem Heim mit
bedeutenden Werken asiatischer Kunst umgibt,
......
und sich auch eingehend mit den geistigen
Grundlagen des Buddhismus beschäftigt, so
erkennt man, daß er ein geistig Schaffender
ist, trotz der oft absolut bei ihm herrschend er-
scheinenden Triebhaftigkeit seines Arbeitens.
Möge dem großen Schauspieler Wegener be-
schert sein, sich in ganz besoNüerem Maße in
die Gestaltung des heldischen Dramas und des
heroischen neuen Bühnenstils einzusetzen und
hier uns neue monumentale Gestalten zu zei-
gen. T.
Dr. Todt in Stockholm
Vortrag Wer das drutW StraßenSaumken vor -rr reuW-sOMdWM
Gelrll schalt
Stockholm, 8. Dez. Die deutsch-schwedische Ge-
sellschaft in Stockholm hielt am Samstag ihre
Dezember - Tagung ab. Der Generaliuspektor
für das deutsche Straßsnwesen, Dr. ing. Todt,
war eingeladen worden, über die Aufgaben des
Landstraßenbaues in Deutschland einen Vortrag
zu halten. Der Vorsitzende der deutsch-schwedi-
schen Gesellschaft, General D. Champs, rich-
tete einige Begrützungsworte an Dr. Todt,
wobei er darauf hinwies, daß die Not zwar
große Werte vernichte, aber auch neue Gedan-
ken und Pläne erwecke. Dies treffe für das neue
Deutschland besonders zu, wo Gewaltiges am
Werke sei.
Darauf sprach Dr. Todt. Er überbrachte zu-
nächst herzliche Grütze des deutschen Volkes und
erklärte, zum Beweis der freundschaftlichen Ge-
fühle Deutschlands für Schweden habe der Füh-
rer und Reichskanzler seine Reise nach Stock-
holm nicht nur genehmigt, sondern ausdrücklich
betont, daß er sie freudig begrüße. Indem Dr.
Todt ferner für die Einladung seinen Dank
aussprach, erinnerte er an die freundschaftliche
Zusammenarbeit mit den schwedischen Fachleu-
ten anläßlich des 7. Internationalen Straßen-
kongresses, der im vergangenen Sommer in
Deutschland stattfand und lud die schwedischen
Fachkollegen und Freunde zur großen Automo-
bilausstellung nach Berlin im Februar ein.
Alsdann gab Dr. Todt einen Ueberblick über
die Bedeutung der Straße zu allen Zeiten der
Geschichte, über die Entwicklung des Straßen« e-
sens durch ungünstige politische Verhältnisse und
die ungeheure Förderung derselben durch das
Wirken des Führers und Reichskanzlers.
Ferner umriß der Vortragende die arbeits-
und verkehrspolitische Bedeutung des Straßen-
bauprogramms der Reichsregierung. Zu allen
Zeiten der Geschichte habe die Straße, so fuhr
Dr. Todt fort, außer ihrem rein technischen und
verkehrspolitischen Zweck auch
kulturelle, geschichtliche und politische
Bedeutung
gehabt. Ein Blick in die Geschichte bestätige dies
vollauf. Er erinnerte hierbei an die Leistungen
der alten Kulturvölker in Aegypten, in China,
im Perserroich, an die hervorragenden Straßen
des römischen Reiches, an die Jnkastraßen in
Südamerika, deren Straßenbau eine der gewal-
tigsten Großtaten auf diesem Gebiete sei. Aus
der jüngeren Geschichte erwähnte Dr. Todt die
Straßen Napoleons und die berühmte Bern-
steinstraße von der Ostsee bis an die Mittel-
meerküste. Meistens seien großzügige Straßen-
bauten in Zeiten des kulturellen Aufstiegs einer
Nation entstanden. Auch der frühere Postbe-
trieb habe zum Ausbau internationaler Stra-
ßenverbindungen beigetragen. Mit dem Aus-
bau der Eisenbahn in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts seien dann die Straßen einem
raschen Verfall anhsimgefallen. Und erst der
Kraftwagen stelle wieder einen kraftvollen Stra-
ßenbonutzer und deshalb auch einen Straßen-
bauförderer dar. Aber mit der raschen Verdich-
tung des Kraftverkehrs sei sine wahre Not
der Straße entstanden. Obgleich Deutsch-
land im Laufe der letzten sieben Jahre vor der
nationalsozialistischen Revolution sehr viel Geld
für Straßenbau ausgegeben habe, sei der Zustand
des Straßennetzes 'im Reich nie voll befriedigend
gewesen. Durch die politische Unsicherheit und
die häufigen Wechsel der Kabinette sei jede
Stetigkeit, die für eine technische Arbeit auf
lange Sicht nicht entbehrt werden könne, verlo-
ren gegangen. In der Zeit von 1825 bis 1933
habe es in Deutschland zehnmal Regierungs-
wechsel gegeben. Es habe in Deutschland 2S
selbständige Landesbauverwaltungen der ein-
zelnen Länder und innerhalb derselben über 600
Kreisverwaltungsstellen für den Strahenbaube-
trieb gegeben. Nach dem 30. Januar 1933 sei
dies alles anders geworden. Unser Führer sei
selbst ein großer Freund des Kraftwagens und
habe im Laufe seiner 14jährigen politischen
Kampfzeit eine Strecke, die dem 18- bis LOsachen
Erdumfang entspreche, zurückgolegt. Schon elf
Tage nach dem Regierungsantritt habe Hitler
das Programm des Straßenbaues verkündigt.
Am 27. Juni 1933 sei das Gesetz über die Er-
richtung des Unternehmens „Reichsautobahnen"
beschlossen worden, durch das der Eeneralinspek-
ror für das deutsche Straßenwesen dem Reichs-
kanzler unmittelbar unterstellt wurde. Sämtliche
Stratzenbauverwaltungen seien im untergeord-
net.
Augenblicklich seien fast 400 üüü Mensche«
an dem Straßenbau mittelbar oder un-
mittelbar beteiligt.
Mindestens sine Viertelmillion Menschen wer-
den 6 bis 7 Jahre lang mit der Durchführung
des großen Stratzenbauplanes des Führers be-
schäftigt sein. Das Gesamtnetz der Reichsauto-
bahnen umfasse 7000 Kilometer. Etwa 1200
Kilometer seien bereits fertiggestellt.
Dr. Todt sprach dann über die Finanzierung
des Straßenbaues und über seine Bedeutung für
die Verminderung der Arbeitslosigkeit. Er gab
ferner ein Bild über den Stand des deutschen
Straßenbauwetzes auf Grund des Ergebnisses der
2000 Kilometer Autofahrt durch Deutschland und
ging auf die verkehrspolitische und wirtschaftliche
Bedeutung der Reichsautobahnen ein.
Deutschland habe 50 000 Gemeinden, von de-
nen nur 12 000 Bahnanschluß besäßen, 38 000
Gemeinden könnten mit der Bahn überhaupt
nicht versorgt werden. Hier liege der Wert
des Kraftwagens, der durch seine Ein-
setzung in Verbindung mit den Reichsautostra-
ßen der Wirtschaft der ganzen Nation große Vor-
teile biete. Durch die Förderung des Straßen-
baues werde nicht nur der Bauindustrie, sonder«
allen damit zusammenhängenden Wirtschafts-
zweigen ein Austrieb gegeben. Ein überaus
eindrucksvoller Abschluß waren Lichtbilder vom
Straßenbau und der kurze Tonfilm von dem
feierlichen Auftakt zu den Arbeiten an den
Autostraßen mit den Grußworten und dem Spa-
tenstich des Führers. Langanhaltender herzlicher
Beifall war der Dank für den mit größtem In-
teresse und Spannung gefolgtem Vortrag.
Nach einer kurzen Dankesansprache des Vor-
sitzenden des schwedischen Fachverbandes folgten
gesangliche Darbietungen von der Opernsän-
gerin Helga Görlin, die vier deutsche und vier
schwedische Lieder zum Vortrag brachte.
hafte Angst, die ihn heute abend schon ein-
mal gepackt hatte.
Der Amtmann regte sich nicht, hatte die
Lider geschlossen und atmete gleichmäßig. Ar-
mer Bub! Ob er ahnte, daß sie wahrscheinlich
zum letztenmal ein Zimmer miteinander «teil-
ten?
Anio zog ihm die Decke etwas weiter gegen
die Brust "herauf und drückte einen Kuß auf
seine Stirne, dann tastete er wieder nach
dem Sofa zurück. Wenn der Vater wüßte,
wie ihn die Nachricht über den Kießlinghof
getroffen hatte. Es war nicht auszudenken,
wenn das Gut unter den Hammer kam. Ver-
gantet, der Wald, die Wiesen, die Felder,
der ganze Besitz, an dem das Doridl und ihre
Mutter mit ganzer Seele hingen und den die
Kießling seit Jahrhunderten ihr eigen ge-
nannt hatten, in den Händen anderer.
Er war so müde. Aber wie konnte er jetzt
schlafen, wenn dem Doridl so Entsetzliches
drohte? Und er war immer ohne Brot und
Verdienst, daß er hätte vor sie hintreten und
sagen können: „Was liegt daran, mein Mäd-
chen. Ich verdiene zwar nicht viel, aber so
weit reicht es, daß du nicht hungern brauchst."
Selbst wenn er sein Refendar-Examen ge-
macht hatte, war er noch nichts. Ein Mensch,
der mit fünfundzwanzig Jahren noch vom
Gelds des Vaters lebte.
Durch die Dunkelheit sah er das Bett her-
überleuchten. Aber das Gesicht des Amtmanns
war gegen die Wand geneigt. Es war nichts
zu unterscheiden. Diese entsetzliche Müdigkeit.
Nun wurden ihm auch schon die Hände schlaff
und dösig. Man mußte dem Döridl natürlich
zur Seite stehen, soviel es ging. Vielleicht sah
der Vater doch zu schwarz. Und die Markts
waren ja auch noch da. Die würden sicher nicht
zu geb en, daß-
Als Amtmann Schütte gegen sechs Uhr
früh erwachte — er erwachte immer um diese
Zeit —, hob er leise den Kopf und sah nach
dem Sohne hinüber. Das Gesicht auf die ge-
falteten Hande gelegt, schlief Anio und hatte
ein Lächeln um den Mund: das Doridl feierte
wieder sechzehnten Geburtstag, und eS gab
HU«» H»«r
K.OINSN von 8oUnsil1sr-bo8r8lI
IZichebOrrecUtsscUutr ciurcir Vsrlsx- Oslcsr Geister, V^srclsu
22), (Nachdruck verboten.)
„Wie wird es morgen sein?" dachte er
^nd sah durch das Schwarz des Raumes nach
Sofa hinüber, auf welchem sich Anio
ausgestreckt hatte. Wenn er feinest Referen-
Mr gemacht hatte, war er noch soviel wie
juchts. Aber er konnte wenigstens nebenbei
^rdienen, bei einem Anwalt oder so. Und die
Pension betrug immerhin beinahe dreihun-
dert Mark, da würden sie zu zweien schon
Auskommen Anio war ja so sparsam. Dann
trug gx einen Anzug noch ein bißchen
^nger und ein Paar Schuhe zweimal öfter
gefohlt. Er brauchte so wenig.
. „Schläfst du nicht gut, Vater?" fragte der
stUnge vom Sofa herüber. „Willst du noch
Kissen haben? Ich kann meines gut ent-
ehren."
„Danke, nein. Ich brauche nur immer
^ivas lange, bis ich mich zurechtgerekelt habe.
M weißt es ja." --Von jetzt ab rührte
U der Amtmann nicht mehr. Der Bub sollte
uhlafen. Vielleicht folgten dieser Nacht viele,
°>ele andere, die ihn wach sahen. Aber es
j^str alles geordnet: die Lebensversicherung,
i»e Summe, die für ein Begräbnis nötig war,
°Mr wegen einer Wohnung hatte er noch
Eschau gehalten unter dem Vorwand, er
fauche sie für einen Bekannten. Fünfund-
Idchzig Mark war allerdings viel Geld. Aber
bißchen Sonne mußte Malwine doch ha-
^n und der Junge auch.
. Mit Präsident Steinheil hatte ex ebenfalls
Mch Rücksprache genommen. Anio würde sich
^derzeit Rat und Auskunft bei ihm holen
dürfen. Der förderte seinen Jungen schon
Add half ihm, wo er konnte. Freilich — —
würden alle wie aus den Wolken sein. Aber
konnte ja auch gut ausgehen. Vielleicht lebte
»och ein Paar Jahre, bis Anio sein Staats-
Mmen gemacht hatte. Wie notwendig ein
doch seinen Vater brauchte — fünfund-
"wunzig Jahre und länger.
-.stNio kam auf bloßen Füßen zum Bett ge-
Wichen und neigte sich über das fahle G-e-
'wt, das jetzt in der milchigen Helle mager
stE greisenhaft erschien. — ,',Vater," flüsterte
» und fühlte wieder jene unheimlich rätsel-
Banille-Eis mit Schlagrahm und selbstgebak-
kenen Waffeln dazu.
„Und morgen wird er weinen," dachte der
Amtmann und setzte behutsam den Fuß zu Bo-
den. Anziehen, waschen, rasieren, alles ging
so lautlos vor sich, daß Anio erst erwachte,
als der Vater schon angekleidet vor dem Sofa
stand. „Ich möchte keine Störung verur-
sachen," flüsterte er halblaut. „Ich gehe in
ein Cafe frühstücken. Sobald ich meine An-
gelegenheiten geordnet habe, bekommst du
Nachricht. Jedenfalls weißt du gegen Abend,
wo du mich treffen kannst."
„Ja, Litte Vater." Er war noch so schlaf-
trunken, daß er gar keine Einwände machte.
Erst als die Tür ins Schloß klappte, siel es
ihm schwer auf die Seele, daß er seinem
alten Herrn nicht einmal einen Morgenkuß
gegeben hatte.
Ein Expreßbote brachte gegen fünf Uhr
abends einen Brief für Anio:'
„Ich wäre Dir für Dein Kommen sehr
dankbar. Dein Vater."
Nymphenburger Krankenhaus, Zimmer 68
Eine Weile lähmender Schrecken, dumpfer
Wirbel in den Schläfen, ein dunkles Schwin-
delgefühl, das ihn an den Vorhängen Halt
suchen ließ. — Nymphenburger Krankenhaus!
-Gestürzt, von einem Auto überrannt,
von einem Tram erfaßt worden. Drei Mög-
lichkeiten, von denen die eine so grauenhaft
war wie die andere.
Er riß seinen Mantel aus dem Schrank,
die Türe knallte ins Schloß, daß die Professo-
rin erschrocken aus der Küche gesprungen
kam. Da war er schon die Treppe hinunter.
„Nymphenburger Krankenhaus." Selbst
der Chauffeur hatte Erbarmen mit so viel
offensichtlicher Not. Der Wagen flitzte die
Straße hinab, bog um die Ecke, wartete mit
surrendem Motor auf den Lichterwechsel und
rannte dann wieder die glatte, spiegelnde
Fläche des Asphaltes hinunter. Kinos spien
glitzernde Reklame in die Finsternis, leise be-
gannen die ersten Flocken herabzutanzen.
In fünf Wochen feierte man Weihnacht.
„Sie haben mir zuviel gegeben!" rief der
Chauffeur Anio nach, aber der lief bereits
durch den großen Bogen, welcher den Ein-
gang überdachte. Das Fünfmarkstück zwischen
den Fingern, schüttelte der Chauffeur den
Kopf ,Dem verhauenen Gesicht nach war es
ein Student gewesen. Solche Gesichter merkt
man sich. Vielleicht sah er ihn wieder einmal
Studenten hatten selber immer zu wenig
Geld.
„Zimmer Nr. 68, Schwester." Die weiße
Haube warf einen Schatten über das schmale,
blasse Frauengesicht, das ihn erst eine Treppe
hinauf, dann einen langen Korridor hinun-
ter führte. Leise fiel ihr Knöchel gegen das
weiße Holz.
„Bitte," sagte drinnen eine Stimme.
„Vater!" dachte Anio. Er lebte also noch!
Alles drehte sich in Kreisen. Der kleine, warm
erhellte Raum, das weiße, an die Wand ge-
rückte Bett, der Diwan neben dem Fenster,
alles schaukelte durcheinander.
„Nun habe ich dich aber richtig erschreckt,
nicht wahr, mein Bub?"
Anio sah nur wie durch einen Nebel und
ging der Stimme nach, die aus den Kissen
kam, fühlte eine Hand, die nach der seinen
griff, und hielt sich daran fest. „War es —
eine Tram?"
„Nein, Anio, nein. Setze dich erst. Danke,
Schwester," sagte Schütte, als diese einen
Stuhl ans Bett schob. „So. Was hast du
kalte Hände. Kann mein Sohn vielleicht ein
Glas Wein haben, Schwester?" Die Türe
klappte leise ins Schloß.' „Komm, setze dich
endlich, Anio. Ich habe nur — ich wollte —
eigentlich hat mirs Sanitcstsrat Fühl schon
vor Wochen gesagt, daß meine Leber nicht in
Ordnung ist. Nun wollte ich doch Gewißheit
haben und konsultierte hier eine Kapazität.
Du mußt mich nicht so erstarrt anseh-en, mein
Anio," sagte er und wich dem Blicke des
Jungen aus. „Einmal darf dein alter Vater
doch auch ein bißchen krank fein, nicht?"
„. . . . Was sagt der Professor?"
„Ich soll morgen operiert werden."
Der Nebel, welcher sich etwas gelichtet
hatte, stand urplötzlich wieder dickst wie eine
Mauer. Glocken riefen. Ein Hupensignal irrte
draußen vorüber und riß ihm die Hand in
die Luft. „Na, na, na, na, mein Bub,"
mahnte Schütte, nun selbst aus der künstlich
suggerierten Ruhe aufgestört. „Zwanzig wer-
den hier im Tage operiert, manchmal stirbt
man nichz gleich. Ich habe dich bitten lassen,
daß du die Mutter verständigst. Aber erst,
wenn es vorüber ist. Vor übermorgen darf
mich auch niemand besuchen."
(Fortsetzung folgt.)
Dienstag, Len 11. Dezenchex 1934
Nr. 284
Der Bamr aus der Bühne
8um KV. Geburtstag Paul Wegeners, des
großen Schauspielers, am 11. Dezember.
Wenn von einem Bauern gesprochen wird,
w ist weder etwas Plumpes noch Beschränktes
gemeint, sondern die Kraft und Wucht, die
elementare Erdhaftigkeit, aber auch die ge-
sunde Schläue, die noch mit Urbildern be-
seelte Phantasie und das klare große Denken.
Aus all diesen Quellen schöpft einer unserer
größten lebenden Schauspieler, gestaltet er sein
Künstlertum. Schon das gemeißelte, breit-
mochige Gesicht zeigt den Ostpreußen, seine
gewaltige Gestalt und das stämmige, schwere
Auftreten ist unvergeßlich.
Paul Wegener hat in Zelten, die dem Fe-
minismus und der Knabenhaftigkeit zu Ver-
salien drohten, seine männliche Art bewahrt.
Wie er 1914 still und in aller Selbstverständ-
lichkeit nach Flandern mit hinauszog und als
Offizier mit beiden Ehrenkreuzen für Tapfer-
keit geschmückt heimkehrte, so blieb er stark
und deutsch auch in Tagen undeutscher Schau-
spielerei. Er ist kein Wandlungskünstler, er
bleibt in jeder Rolle er selbst, aber diese seine
Persönlichkeit schafft die Rollen seines Faches
Ueu. Es sind freilich keine psychologisch zer-
faserten modernen Zivilisationsmänner, die
chm liegen, sondern zyklopische, häufig ins tie-
rische hinabreichende Gestalten, sei es „Holo-
fernes , „Othello" der „Mephisto" und
^Richard III.". Er hat es in einer verflachten
Welt gewagt, das Böse in seiner ganzen Bru-
kalität und Scheußlichkeit mit allem tierischen
Ursprung, aber auch seiner gefährlichen Ver-
schlagenheit darzustellen — und hat es ge-
konnt. Er hat damit gleichsam der Gegen-
Mart einen religiösen Dienst geleistet, denn
Mie oft konnten wir es erleben/ daß eine „jen-
seits von Gut und Böse" lebende großstäd-
tische Eleganz sine unheimliche Ahnung von
öex Existenz des Bösen und seiner dämoni-
schen Gefahr überlief.
Es brauchte nicht gerade sein tievisch-bruta--
ker Mephisto zu sein, oder das fauchende, von
unbezähmbarer Wut getriebene Tier Franz
Moor. Auch in Gogols „Revisor" oder im
„Alba" entpuppte sich die ganze Häßlichkeit
niederer menschlicher Gesinnung.
Auch gleichzeitig hat Wegener uns die
derbe, aber gesunde Komik und Schalkhaftig-
keit Breugelscher Art erhalten, eine feiste,
sinnlich breite Fröhlichkeit, die auch wieder
schwere, würzige Landluft mit seinem „Fal-
staff" oder „Merkutio" auf die Bühne wehte.
Wenn der Künstler sich in seinem Heim mit
bedeutenden Werken asiatischer Kunst umgibt,
......
und sich auch eingehend mit den geistigen
Grundlagen des Buddhismus beschäftigt, so
erkennt man, daß er ein geistig Schaffender
ist, trotz der oft absolut bei ihm herrschend er-
scheinenden Triebhaftigkeit seines Arbeitens.
Möge dem großen Schauspieler Wegener be-
schert sein, sich in ganz besoNüerem Maße in
die Gestaltung des heldischen Dramas und des
heroischen neuen Bühnenstils einzusetzen und
hier uns neue monumentale Gestalten zu zei-
gen. T.
Dr. Todt in Stockholm
Vortrag Wer das drutW StraßenSaumken vor -rr reuW-sOMdWM
Gelrll schalt
Stockholm, 8. Dez. Die deutsch-schwedische Ge-
sellschaft in Stockholm hielt am Samstag ihre
Dezember - Tagung ab. Der Generaliuspektor
für das deutsche Straßsnwesen, Dr. ing. Todt,
war eingeladen worden, über die Aufgaben des
Landstraßenbaues in Deutschland einen Vortrag
zu halten. Der Vorsitzende der deutsch-schwedi-
schen Gesellschaft, General D. Champs, rich-
tete einige Begrützungsworte an Dr. Todt,
wobei er darauf hinwies, daß die Not zwar
große Werte vernichte, aber auch neue Gedan-
ken und Pläne erwecke. Dies treffe für das neue
Deutschland besonders zu, wo Gewaltiges am
Werke sei.
Darauf sprach Dr. Todt. Er überbrachte zu-
nächst herzliche Grütze des deutschen Volkes und
erklärte, zum Beweis der freundschaftlichen Ge-
fühle Deutschlands für Schweden habe der Füh-
rer und Reichskanzler seine Reise nach Stock-
holm nicht nur genehmigt, sondern ausdrücklich
betont, daß er sie freudig begrüße. Indem Dr.
Todt ferner für die Einladung seinen Dank
aussprach, erinnerte er an die freundschaftliche
Zusammenarbeit mit den schwedischen Fachleu-
ten anläßlich des 7. Internationalen Straßen-
kongresses, der im vergangenen Sommer in
Deutschland stattfand und lud die schwedischen
Fachkollegen und Freunde zur großen Automo-
bilausstellung nach Berlin im Februar ein.
Alsdann gab Dr. Todt einen Ueberblick über
die Bedeutung der Straße zu allen Zeiten der
Geschichte, über die Entwicklung des Straßen« e-
sens durch ungünstige politische Verhältnisse und
die ungeheure Förderung derselben durch das
Wirken des Führers und Reichskanzlers.
Ferner umriß der Vortragende die arbeits-
und verkehrspolitische Bedeutung des Straßen-
bauprogramms der Reichsregierung. Zu allen
Zeiten der Geschichte habe die Straße, so fuhr
Dr. Todt fort, außer ihrem rein technischen und
verkehrspolitischen Zweck auch
kulturelle, geschichtliche und politische
Bedeutung
gehabt. Ein Blick in die Geschichte bestätige dies
vollauf. Er erinnerte hierbei an die Leistungen
der alten Kulturvölker in Aegypten, in China,
im Perserroich, an die hervorragenden Straßen
des römischen Reiches, an die Jnkastraßen in
Südamerika, deren Straßenbau eine der gewal-
tigsten Großtaten auf diesem Gebiete sei. Aus
der jüngeren Geschichte erwähnte Dr. Todt die
Straßen Napoleons und die berühmte Bern-
steinstraße von der Ostsee bis an die Mittel-
meerküste. Meistens seien großzügige Straßen-
bauten in Zeiten des kulturellen Aufstiegs einer
Nation entstanden. Auch der frühere Postbe-
trieb habe zum Ausbau internationaler Stra-
ßenverbindungen beigetragen. Mit dem Aus-
bau der Eisenbahn in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts seien dann die Straßen einem
raschen Verfall anhsimgefallen. Und erst der
Kraftwagen stelle wieder einen kraftvollen Stra-
ßenbonutzer und deshalb auch einen Straßen-
bauförderer dar. Aber mit der raschen Verdich-
tung des Kraftverkehrs sei sine wahre Not
der Straße entstanden. Obgleich Deutsch-
land im Laufe der letzten sieben Jahre vor der
nationalsozialistischen Revolution sehr viel Geld
für Straßenbau ausgegeben habe, sei der Zustand
des Straßennetzes 'im Reich nie voll befriedigend
gewesen. Durch die politische Unsicherheit und
die häufigen Wechsel der Kabinette sei jede
Stetigkeit, die für eine technische Arbeit auf
lange Sicht nicht entbehrt werden könne, verlo-
ren gegangen. In der Zeit von 1825 bis 1933
habe es in Deutschland zehnmal Regierungs-
wechsel gegeben. Es habe in Deutschland 2S
selbständige Landesbauverwaltungen der ein-
zelnen Länder und innerhalb derselben über 600
Kreisverwaltungsstellen für den Strahenbaube-
trieb gegeben. Nach dem 30. Januar 1933 sei
dies alles anders geworden. Unser Führer sei
selbst ein großer Freund des Kraftwagens und
habe im Laufe seiner 14jährigen politischen
Kampfzeit eine Strecke, die dem 18- bis LOsachen
Erdumfang entspreche, zurückgolegt. Schon elf
Tage nach dem Regierungsantritt habe Hitler
das Programm des Straßenbaues verkündigt.
Am 27. Juni 1933 sei das Gesetz über die Er-
richtung des Unternehmens „Reichsautobahnen"
beschlossen worden, durch das der Eeneralinspek-
ror für das deutsche Straßenwesen dem Reichs-
kanzler unmittelbar unterstellt wurde. Sämtliche
Stratzenbauverwaltungen seien im untergeord-
net.
Augenblicklich seien fast 400 üüü Mensche«
an dem Straßenbau mittelbar oder un-
mittelbar beteiligt.
Mindestens sine Viertelmillion Menschen wer-
den 6 bis 7 Jahre lang mit der Durchführung
des großen Stratzenbauplanes des Führers be-
schäftigt sein. Das Gesamtnetz der Reichsauto-
bahnen umfasse 7000 Kilometer. Etwa 1200
Kilometer seien bereits fertiggestellt.
Dr. Todt sprach dann über die Finanzierung
des Straßenbaues und über seine Bedeutung für
die Verminderung der Arbeitslosigkeit. Er gab
ferner ein Bild über den Stand des deutschen
Straßenbauwetzes auf Grund des Ergebnisses der
2000 Kilometer Autofahrt durch Deutschland und
ging auf die verkehrspolitische und wirtschaftliche
Bedeutung der Reichsautobahnen ein.
Deutschland habe 50 000 Gemeinden, von de-
nen nur 12 000 Bahnanschluß besäßen, 38 000
Gemeinden könnten mit der Bahn überhaupt
nicht versorgt werden. Hier liege der Wert
des Kraftwagens, der durch seine Ein-
setzung in Verbindung mit den Reichsautostra-
ßen der Wirtschaft der ganzen Nation große Vor-
teile biete. Durch die Förderung des Straßen-
baues werde nicht nur der Bauindustrie, sonder«
allen damit zusammenhängenden Wirtschafts-
zweigen ein Austrieb gegeben. Ein überaus
eindrucksvoller Abschluß waren Lichtbilder vom
Straßenbau und der kurze Tonfilm von dem
feierlichen Auftakt zu den Arbeiten an den
Autostraßen mit den Grußworten und dem Spa-
tenstich des Führers. Langanhaltender herzlicher
Beifall war der Dank für den mit größtem In-
teresse und Spannung gefolgtem Vortrag.
Nach einer kurzen Dankesansprache des Vor-
sitzenden des schwedischen Fachverbandes folgten
gesangliche Darbietungen von der Opernsän-
gerin Helga Görlin, die vier deutsche und vier
schwedische Lieder zum Vortrag brachte.
hafte Angst, die ihn heute abend schon ein-
mal gepackt hatte.
Der Amtmann regte sich nicht, hatte die
Lider geschlossen und atmete gleichmäßig. Ar-
mer Bub! Ob er ahnte, daß sie wahrscheinlich
zum letztenmal ein Zimmer miteinander «teil-
ten?
Anio zog ihm die Decke etwas weiter gegen
die Brust "herauf und drückte einen Kuß auf
seine Stirne, dann tastete er wieder nach
dem Sofa zurück. Wenn der Vater wüßte,
wie ihn die Nachricht über den Kießlinghof
getroffen hatte. Es war nicht auszudenken,
wenn das Gut unter den Hammer kam. Ver-
gantet, der Wald, die Wiesen, die Felder,
der ganze Besitz, an dem das Doridl und ihre
Mutter mit ganzer Seele hingen und den die
Kießling seit Jahrhunderten ihr eigen ge-
nannt hatten, in den Händen anderer.
Er war so müde. Aber wie konnte er jetzt
schlafen, wenn dem Doridl so Entsetzliches
drohte? Und er war immer ohne Brot und
Verdienst, daß er hätte vor sie hintreten und
sagen können: „Was liegt daran, mein Mäd-
chen. Ich verdiene zwar nicht viel, aber so
weit reicht es, daß du nicht hungern brauchst."
Selbst wenn er sein Refendar-Examen ge-
macht hatte, war er noch nichts. Ein Mensch,
der mit fünfundzwanzig Jahren noch vom
Gelds des Vaters lebte.
Durch die Dunkelheit sah er das Bett her-
überleuchten. Aber das Gesicht des Amtmanns
war gegen die Wand geneigt. Es war nichts
zu unterscheiden. Diese entsetzliche Müdigkeit.
Nun wurden ihm auch schon die Hände schlaff
und dösig. Man mußte dem Döridl natürlich
zur Seite stehen, soviel es ging. Vielleicht sah
der Vater doch zu schwarz. Und die Markts
waren ja auch noch da. Die würden sicher nicht
zu geb en, daß-
Als Amtmann Schütte gegen sechs Uhr
früh erwachte — er erwachte immer um diese
Zeit —, hob er leise den Kopf und sah nach
dem Sohne hinüber. Das Gesicht auf die ge-
falteten Hande gelegt, schlief Anio und hatte
ein Lächeln um den Mund: das Doridl feierte
wieder sechzehnten Geburtstag, und eS gab
HU«» H»«r
K.OINSN von 8oUnsil1sr-bo8r8lI
IZichebOrrecUtsscUutr ciurcir Vsrlsx- Oslcsr Geister, V^srclsu
22), (Nachdruck verboten.)
„Wie wird es morgen sein?" dachte er
^nd sah durch das Schwarz des Raumes nach
Sofa hinüber, auf welchem sich Anio
ausgestreckt hatte. Wenn er feinest Referen-
Mr gemacht hatte, war er noch soviel wie
juchts. Aber er konnte wenigstens nebenbei
^rdienen, bei einem Anwalt oder so. Und die
Pension betrug immerhin beinahe dreihun-
dert Mark, da würden sie zu zweien schon
Auskommen Anio war ja so sparsam. Dann
trug gx einen Anzug noch ein bißchen
^nger und ein Paar Schuhe zweimal öfter
gefohlt. Er brauchte so wenig.
. „Schläfst du nicht gut, Vater?" fragte der
stUnge vom Sofa herüber. „Willst du noch
Kissen haben? Ich kann meines gut ent-
ehren."
„Danke, nein. Ich brauche nur immer
^ivas lange, bis ich mich zurechtgerekelt habe.
M weißt es ja." --Von jetzt ab rührte
U der Amtmann nicht mehr. Der Bub sollte
uhlafen. Vielleicht folgten dieser Nacht viele,
°>ele andere, die ihn wach sahen. Aber es
j^str alles geordnet: die Lebensversicherung,
i»e Summe, die für ein Begräbnis nötig war,
°Mr wegen einer Wohnung hatte er noch
Eschau gehalten unter dem Vorwand, er
fauche sie für einen Bekannten. Fünfund-
Idchzig Mark war allerdings viel Geld. Aber
bißchen Sonne mußte Malwine doch ha-
^n und der Junge auch.
. Mit Präsident Steinheil hatte ex ebenfalls
Mch Rücksprache genommen. Anio würde sich
^derzeit Rat und Auskunft bei ihm holen
dürfen. Der förderte seinen Jungen schon
Add half ihm, wo er konnte. Freilich — —
würden alle wie aus den Wolken sein. Aber
konnte ja auch gut ausgehen. Vielleicht lebte
»och ein Paar Jahre, bis Anio sein Staats-
Mmen gemacht hatte. Wie notwendig ein
doch seinen Vater brauchte — fünfund-
"wunzig Jahre und länger.
-.stNio kam auf bloßen Füßen zum Bett ge-
Wichen und neigte sich über das fahle G-e-
'wt, das jetzt in der milchigen Helle mager
stE greisenhaft erschien. — ,',Vater," flüsterte
» und fühlte wieder jene unheimlich rätsel-
Banille-Eis mit Schlagrahm und selbstgebak-
kenen Waffeln dazu.
„Und morgen wird er weinen," dachte der
Amtmann und setzte behutsam den Fuß zu Bo-
den. Anziehen, waschen, rasieren, alles ging
so lautlos vor sich, daß Anio erst erwachte,
als der Vater schon angekleidet vor dem Sofa
stand. „Ich möchte keine Störung verur-
sachen," flüsterte er halblaut. „Ich gehe in
ein Cafe frühstücken. Sobald ich meine An-
gelegenheiten geordnet habe, bekommst du
Nachricht. Jedenfalls weißt du gegen Abend,
wo du mich treffen kannst."
„Ja, Litte Vater." Er war noch so schlaf-
trunken, daß er gar keine Einwände machte.
Erst als die Tür ins Schloß klappte, siel es
ihm schwer auf die Seele, daß er seinem
alten Herrn nicht einmal einen Morgenkuß
gegeben hatte.
Ein Expreßbote brachte gegen fünf Uhr
abends einen Brief für Anio:'
„Ich wäre Dir für Dein Kommen sehr
dankbar. Dein Vater."
Nymphenburger Krankenhaus, Zimmer 68
Eine Weile lähmender Schrecken, dumpfer
Wirbel in den Schläfen, ein dunkles Schwin-
delgefühl, das ihn an den Vorhängen Halt
suchen ließ. — Nymphenburger Krankenhaus!
-Gestürzt, von einem Auto überrannt,
von einem Tram erfaßt worden. Drei Mög-
lichkeiten, von denen die eine so grauenhaft
war wie die andere.
Er riß seinen Mantel aus dem Schrank,
die Türe knallte ins Schloß, daß die Professo-
rin erschrocken aus der Küche gesprungen
kam. Da war er schon die Treppe hinunter.
„Nymphenburger Krankenhaus." Selbst
der Chauffeur hatte Erbarmen mit so viel
offensichtlicher Not. Der Wagen flitzte die
Straße hinab, bog um die Ecke, wartete mit
surrendem Motor auf den Lichterwechsel und
rannte dann wieder die glatte, spiegelnde
Fläche des Asphaltes hinunter. Kinos spien
glitzernde Reklame in die Finsternis, leise be-
gannen die ersten Flocken herabzutanzen.
In fünf Wochen feierte man Weihnacht.
„Sie haben mir zuviel gegeben!" rief der
Chauffeur Anio nach, aber der lief bereits
durch den großen Bogen, welcher den Ein-
gang überdachte. Das Fünfmarkstück zwischen
den Fingern, schüttelte der Chauffeur den
Kopf ,Dem verhauenen Gesicht nach war es
ein Student gewesen. Solche Gesichter merkt
man sich. Vielleicht sah er ihn wieder einmal
Studenten hatten selber immer zu wenig
Geld.
„Zimmer Nr. 68, Schwester." Die weiße
Haube warf einen Schatten über das schmale,
blasse Frauengesicht, das ihn erst eine Treppe
hinauf, dann einen langen Korridor hinun-
ter führte. Leise fiel ihr Knöchel gegen das
weiße Holz.
„Bitte," sagte drinnen eine Stimme.
„Vater!" dachte Anio. Er lebte also noch!
Alles drehte sich in Kreisen. Der kleine, warm
erhellte Raum, das weiße, an die Wand ge-
rückte Bett, der Diwan neben dem Fenster,
alles schaukelte durcheinander.
„Nun habe ich dich aber richtig erschreckt,
nicht wahr, mein Bub?"
Anio sah nur wie durch einen Nebel und
ging der Stimme nach, die aus den Kissen
kam, fühlte eine Hand, die nach der seinen
griff, und hielt sich daran fest. „War es —
eine Tram?"
„Nein, Anio, nein. Setze dich erst. Danke,
Schwester," sagte Schütte, als diese einen
Stuhl ans Bett schob. „So. Was hast du
kalte Hände. Kann mein Sohn vielleicht ein
Glas Wein haben, Schwester?" Die Türe
klappte leise ins Schloß.' „Komm, setze dich
endlich, Anio. Ich habe nur — ich wollte —
eigentlich hat mirs Sanitcstsrat Fühl schon
vor Wochen gesagt, daß meine Leber nicht in
Ordnung ist. Nun wollte ich doch Gewißheit
haben und konsultierte hier eine Kapazität.
Du mußt mich nicht so erstarrt anseh-en, mein
Anio," sagte er und wich dem Blicke des
Jungen aus. „Einmal darf dein alter Vater
doch auch ein bißchen krank fein, nicht?"
„. . . . Was sagt der Professor?"
„Ich soll morgen operiert werden."
Der Nebel, welcher sich etwas gelichtet
hatte, stand urplötzlich wieder dickst wie eine
Mauer. Glocken riefen. Ein Hupensignal irrte
draußen vorüber und riß ihm die Hand in
die Luft. „Na, na, na, na, mein Bub,"
mahnte Schütte, nun selbst aus der künstlich
suggerierten Ruhe aufgestört. „Zwanzig wer-
den hier im Tage operiert, manchmal stirbt
man nichz gleich. Ich habe dich bitten lassen,
daß du die Mutter verständigst. Aber erst,
wenn es vorüber ist. Vor übermorgen darf
mich auch niemand besuchen."
(Fortsetzung folgt.)