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Hirschel, Grete
Le livre des Quatre Dames von Alain Chartier: Studien zur französischen Minnekasuistik des Mittelalters — Heidelberg, 1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.51682#0032
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feinertes Naturempfinden zur Voraussetzung haben. „Die Früh-
lingsschilderung ist ein beliebtes... Thema, das man möglichst
oft anzubringen sucht, auch an Stellen, wo es nicht passen will,
weil man seiner Freude an der äußeren Welt Ausdruck geben
will... Vielfach ist es aber tatsächlich nur ein ohne innere Em-
pfindung benutztes Schmuckstück der Darstellung geworden“7.
Von der Minnelyrik aus dringt die Frühlingsschilderung auch
in die epischen Formen der Minnedichtung ein. Die bekannte
Schilderung des Frühlingsspazierganges im Rosenroman blieb bis
zum 15. Jahrhundert Muster und Ausgangspunkt für solche Dar-
stellungen in der Dichtung wie in der bildenden Kunst. Ebenso der
Paradies- oder Liebesgarten, ein anderes mit der mittelalterlichen
Minnedichtung eng verwachsenes Motiv, das ebenfalls im Rosen-
roman in breitester Ausführung behandelt ist. Der Liebesgarten,
d. h. das Reich des Liebesgottes, ist eine profane Nachbildung des
christlichen Paradieses und als ein Motiv anzusprechen, das im
Zusammenhang mit einer Art von Liebestheologie von Minne-
dichtern geistlichen Standes erfunden und entwickelt worden ist8.
II.
Der Paradiesgarten ist naturgemäß eine Ideallandschaft, wäh-
rend dem Frühlingsspaziergang eine reale Landschaft zugrunde
liegt. Reide Motive verwachsen miteinander und ergeben einen
landschaftlichen Typus, der am deutlichsten in der bildenden
Kunst des ausgehenden Mittelalters auf dem Genter Altar in der
Anbetung des Lammes entgegentritt. Diese Landschaft ist aus
realistischen Details zusammengesetzt, die aber auf unnatürliche
Weise gehäuft und zusammengestellt sind, sodaß das Ganze in
minutiös ausgeführte realistische Einzelheiten zerfällt, ohne den
Eindruck einer organischen Landschaft zu erwecken. Jede Pflanze,
jeder Stein ist ein Stilleben für sich. Das Landschaftsbild als'
Ganzes ist utopisch.
Obwohl die Dichtung, in der sich die Eindrücke ja hinter-
einander reihen, in ihrer Darstellungsweise anders verfahren muß
als die bildende Kunst, kommt sie doch in der landschaftlichen
Darstellung zu einem ähnlichen Endresultat wie die Malerei. Auch
hier entbehrt die geschilderte Landschaft des organischen Zusam-
menhanges.
Die persönliche Beobachtungsgabe des Malers spricht sich in
der naturwahren Individualisierung des Details aus. Hier wird die
für den mittelalterlichen Geist so typische Lust am Schildern und
Ausmalen deutlich, die Darstellung ist intensiv. In der Dichtung
dagegen ist sie expansiv, d. h. der Dichter sucht durch Quantität
7 Ganzenmüller, Wilhelm, Das Naturgefühl im Mittelalter,
Leipzig 1914, S. 248.
8 La n g 1 o i s, Ernest, Origines et Sources du Roman de la Rose,
Paris 1890.

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