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ELFTES KAPITEL

heil und Gestank, sie gebiert unter Traurigkeit und Schmerzen, sie
säugt mit Beklemmung und Anstrengung, sie wacht voller Angst und
Furcht.“ Oh, jene lachenden Freuden der Mutterschaft! — „Quis un-
quam vel unicam diem totam duxit in sua delectatione jucundam . . .
quem denique visus vel auditus vel aliquis ictus non offenderit?“
„Wer hat je auch nur einen einzigen Tag ganz und gar angenehm im
Genuß zugebracht... ohne daß ihn irgendein Anblick, irgendein Laut
oder irgendein Stoß verletzte“1). War es christliche Weisheit oder das
Schmollen eines verzogenen Kindes?
Es steckt zweifelsohne in all diesem ein Geist von ungeheurem
Materialismus, der den Gedanken an das Vergehen der Schönheit nicht
ertragen konnte, ohne an der Schönheit selbst zu verzweifeln. Und
man achte einmal darauf, wie (jedenfalls in der Literatur, weniger in
der bildenden Kunst) besonders die Frauenschönheit beklagt wird.
Es besteht hier kaum eine Grenze zwischen der religiösen Ermahnung,
an den Tod und an die Vergänglichkeit des Irdischen zu denken, und
dem Bedauern der alten Kurtisane über den Verfall der Schönheit,
die sie nicht mehr verschenken kann.
Wir geben erst ein Beispiel, wo die erbauliche Ermahnung noch im
Vordergrund steht. In dem Cölestinenkloster zu Avignon befand sich
vor der Revolution ein Wandgemälde, welches die Überlieferung dem
kunstreichen Stifter König Rene selbst zuschrieb. Es stellte eine auf-
rechtstehende Frauenleiche vor, mit einem zierlichen Kopfputz, in ihr
Totengewand eingehüllt; die Würmer verzehrten den Körper. Die
ersten Strophen der Unterschrift lauteten:
„Une fois sur toute femme belle
Mais par la mort suis devenue teile.
Ma chair estoit tres belle, fraische et tendre
Or est-elle toute tournee en cendre.
Mon corps estoit tres plaisant et tres gent,
Je me souloye souvent vestir de soye,
Or en droict fault que toute nue je soye.
Fourree estois de gris et de menu vair,
En grand palais me logeois ä mon vueil,

x) Ib. p. 713.
 
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