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SECHZEHNTES KAPITEL
„Gott ist ein lauter Nichts, ihn rührt kein Nun noch Hier;
Je mehr du nach ihm greifst, je mehr entwird er dir“1).
Dies Fortschreiten des schauenden Geistes bis zur Preisgabe jeg-
licher Vorstellung hat sich in Wirklichkeit natürlich nicht in dieser
strikten Reihenfolge vollzogen. Die meisten mystischen Äußerungen
weisen all jene Phasen gleichzeitig und durcheinander auf. Sie sind
bei den Indiern vorhanden, sie sind schon bei dem Pseudo-Dionysius
Areopagita, der Quelle aller christlichen Mystik, vollkommen ent-
wickelt, und sie leben wieder auf in der deutschen Mystik des
14. Jahrhunderts.
Als Beispiel diene folgendes aus den Revelationen des Dionysius
des Karthäusers2). Er spricht mit Gott, der zornig ist: „Bei dieser
Antwort sah sich der Bruder, nach innen gekehrt, in eine Sphäre un-
endlichen Lichts versetzt, und allerlieblichst, in einer ungeheuren
Ruhe rief er mit einem heimlichen, nicht nach außen tönenden Rufen
nach dem allergeheimsten und wahrlich verborgenen und unfaßlichen
Gott: 0 überliebenswertester Gott, Du bist selbst das Licht und die
Sphäre des Lichts, in der Deine Außerwählten süß zur Ruhe gehen,
sich erholen, schlummern und einschlafen. Du bist wie eine aller-
weiteste, allerebenste und undurchmeßbare Einöde, in der der wahr-
lich fromme Geist, von besonderer Liebe ganz gereinigt, von oben er-
leuchtet und kräftig entflammt, umherschweift, ohne sich zu verirren,
und sich verirrt, ohne umherzuschweifen, selig unterliegt und unge-
schwächt genest.“ Hier ist zunächst die Lichtvorstellung, noch positiv,
dann die des Schlafs, danach die der Einöde (die Räumlichkeitsvor-
stellung in zwei Dimensionen), endlich die sich gegenseitig aufheben-
den Gegensätze.
Das Bild der Einöde, die horizontale Raumvorstellung, wechselt
ab mit dem des Abgrunds, der vertikalen Raumvorstellung. Letz-
teres war ein gewaltiger Fund des mystischen Gestaltens. Denn der
Ausdruck für die Eigenschaftslosigkeit der Gottheit in Eckharts
Worten von „dem weiselosen und formlosen Abgrund der stillen
wüsten Gottheit“ fügte dem Begriff einer Unendlichkeit zugleich das
b Cherubinischer Wandersmann, I, 25.
2) Opera, I, p. xliv.
SECHZEHNTES KAPITEL
„Gott ist ein lauter Nichts, ihn rührt kein Nun noch Hier;
Je mehr du nach ihm greifst, je mehr entwird er dir“1).
Dies Fortschreiten des schauenden Geistes bis zur Preisgabe jeg-
licher Vorstellung hat sich in Wirklichkeit natürlich nicht in dieser
strikten Reihenfolge vollzogen. Die meisten mystischen Äußerungen
weisen all jene Phasen gleichzeitig und durcheinander auf. Sie sind
bei den Indiern vorhanden, sie sind schon bei dem Pseudo-Dionysius
Areopagita, der Quelle aller christlichen Mystik, vollkommen ent-
wickelt, und sie leben wieder auf in der deutschen Mystik des
14. Jahrhunderts.
Als Beispiel diene folgendes aus den Revelationen des Dionysius
des Karthäusers2). Er spricht mit Gott, der zornig ist: „Bei dieser
Antwort sah sich der Bruder, nach innen gekehrt, in eine Sphäre un-
endlichen Lichts versetzt, und allerlieblichst, in einer ungeheuren
Ruhe rief er mit einem heimlichen, nicht nach außen tönenden Rufen
nach dem allergeheimsten und wahrlich verborgenen und unfaßlichen
Gott: 0 überliebenswertester Gott, Du bist selbst das Licht und die
Sphäre des Lichts, in der Deine Außerwählten süß zur Ruhe gehen,
sich erholen, schlummern und einschlafen. Du bist wie eine aller-
weiteste, allerebenste und undurchmeßbare Einöde, in der der wahr-
lich fromme Geist, von besonderer Liebe ganz gereinigt, von oben er-
leuchtet und kräftig entflammt, umherschweift, ohne sich zu verirren,
und sich verirrt, ohne umherzuschweifen, selig unterliegt und unge-
schwächt genest.“ Hier ist zunächst die Lichtvorstellung, noch positiv,
dann die des Schlafs, danach die der Einöde (die Räumlichkeitsvor-
stellung in zwei Dimensionen), endlich die sich gegenseitig aufheben-
den Gegensätze.
Das Bild der Einöde, die horizontale Raumvorstellung, wechselt
ab mit dem des Abgrunds, der vertikalen Raumvorstellung. Letz-
teres war ein gewaltiger Fund des mystischen Gestaltens. Denn der
Ausdruck für die Eigenschaftslosigkeit der Gottheit in Eckharts
Worten von „dem weiselosen und formlosen Abgrund der stillen
wüsten Gottheit“ fügte dem Begriff einer Unendlichkeit zugleich das
b Cherubinischer Wandersmann, I, 25.
2) Opera, I, p. xliv.