„REALISMUS“ UND DIE GRENZEN DES BILDLICHEN DENKENS
307
aussprechlich ist, und von allem, was er verrichtet, durch eine unermeß-
liche und ganz unvergleichliche Verschiedenheit und Einzigartigkeit
getrennt ist“1). — Die einende Weisheit (sapientia unitiva) wird unver-
nünftig, sinnlos und töricht genannt2 3).
Wie verwandt und wie anders doch wieder ertönen die Klänge
aus dem fernen alten Indien. Der Schüler kam zum Meister und sagte:
„Lehre mich das Brahma, Ehrwürden! Jener aber schwieg still. Als
nun der andere zum zweiten Male und zum dritten Male sagte: Lehre
mich das Brahma, Ehrwürden! da sprach der Meister: Ich lehre es
Dich ja, aber Du verstehst es nicht: dieser ätman (das Selbst) ist still“8).
Die Götter wollten von Prajäpati den ätman kennen lernen. Zwei-
unddreißig Jahre wohnten sie bei ihm als Brahma-Schüler. Dann
lehrte er sie, daß das Männchen im Auge oder das Spiegelbild im
Wasser das Selbst ist, aber ihnen nachblickend sprach er selbst: Ohne
das Selbst begriffen zu haben, gehen sie dahin. — Nach wiederum
zweiunddreißig Jahren offenbart er Indra auf dessen Bedenken hin:
Der da wandelt im Traum, das ist der ätman. Und nach noch einmal
derselben Zeit: „Dasjenige, was, wenn der Mensch eingeschlafen, weg-
gesunken, ganz zur Ruhe gekommen ist, keinen Traum mehr schaut,
das ist das Selbst4)“. „Er aber, der ätman ist nicht so und nicht so;“
die ganze Reihe entgegengesetzter Verneinungen wird erschöpft, um
sein Wesen zu erklären. „Wie Jemand, von einer geliebten Frau um-
schlungen, sich nicht dessen was außen oder was innen ist bewußt
sein kann, so ist sich auch der Geist, von dem aus Erkennen be-
stehenden Selbst umschlungen, nicht dessen was außen oder was
innen ist bewußt. Das ist seine Wesensform, Verlangen gestillt, er
selbst sein Verlangen, ohne Verlangen, geschieden von Leid. Dann
ist Vater nicht-Vater, Mutter nicht-Mutter, Welt nicht-Welt.“5).
* *
*
War die Gestaltungskraft überwunden? — Ohne Bild und Metapher
kann kein einziger Gedanke ausgedrückt werden, und wo es von dem
*) Dion. Cart., De contemplatione, lib. III, art. 5, Opera, t. XLI, p. 259.
2) Dion. Cart., De contemplatione, t. XLI, p. 269, nach Dion. Areop.
3) Qankara ad Brahmasütram, 3, 2, 17.
4) Chandogya-upanishad, 8.
5) Brhadäranyaka-upanishad, 4, 3. 21, 22.
20*
307
aussprechlich ist, und von allem, was er verrichtet, durch eine unermeß-
liche und ganz unvergleichliche Verschiedenheit und Einzigartigkeit
getrennt ist“1). — Die einende Weisheit (sapientia unitiva) wird unver-
nünftig, sinnlos und töricht genannt2 3).
Wie verwandt und wie anders doch wieder ertönen die Klänge
aus dem fernen alten Indien. Der Schüler kam zum Meister und sagte:
„Lehre mich das Brahma, Ehrwürden! Jener aber schwieg still. Als
nun der andere zum zweiten Male und zum dritten Male sagte: Lehre
mich das Brahma, Ehrwürden! da sprach der Meister: Ich lehre es
Dich ja, aber Du verstehst es nicht: dieser ätman (das Selbst) ist still“8).
Die Götter wollten von Prajäpati den ätman kennen lernen. Zwei-
unddreißig Jahre wohnten sie bei ihm als Brahma-Schüler. Dann
lehrte er sie, daß das Männchen im Auge oder das Spiegelbild im
Wasser das Selbst ist, aber ihnen nachblickend sprach er selbst: Ohne
das Selbst begriffen zu haben, gehen sie dahin. — Nach wiederum
zweiunddreißig Jahren offenbart er Indra auf dessen Bedenken hin:
Der da wandelt im Traum, das ist der ätman. Und nach noch einmal
derselben Zeit: „Dasjenige, was, wenn der Mensch eingeschlafen, weg-
gesunken, ganz zur Ruhe gekommen ist, keinen Traum mehr schaut,
das ist das Selbst4)“. „Er aber, der ätman ist nicht so und nicht so;“
die ganze Reihe entgegengesetzter Verneinungen wird erschöpft, um
sein Wesen zu erklären. „Wie Jemand, von einer geliebten Frau um-
schlungen, sich nicht dessen was außen oder was innen ist bewußt
sein kann, so ist sich auch der Geist, von dem aus Erkennen be-
stehenden Selbst umschlungen, nicht dessen was außen oder was
innen ist bewußt. Das ist seine Wesensform, Verlangen gestillt, er
selbst sein Verlangen, ohne Verlangen, geschieden von Leid. Dann
ist Vater nicht-Vater, Mutter nicht-Mutter, Welt nicht-Welt.“5).
* *
*
War die Gestaltungskraft überwunden? — Ohne Bild und Metapher
kann kein einziger Gedanke ausgedrückt werden, und wo es von dem
*) Dion. Cart., De contemplatione, lib. III, art. 5, Opera, t. XLI, p. 259.
2) Dion. Cart., De contemplatione, t. XLI, p. 269, nach Dion. Areop.
3) Qankara ad Brahmasütram, 3, 2, 17.
4) Chandogya-upanishad, 8.
5) Brhadäranyaka-upanishad, 4, 3. 21, 22.
20*