Perugtno uhd Rafael.
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Redaktion des Themas, uns nicht anschiießen können.* In der Kom-
position, in der Formgebung, in der klaren Umrißzeichnung, in der Be-
handlung des Faltenwurfes, in der Zeichnung der Köpfe und der Hände
finden wir die charakteristischen Eigentümlichkeiten der gesicherten Werke
Peruginos wieder. Es erscheint auch unglaubhaft, daß der Meister ein
Bild, das für die vornehmste Kapelle der Stadt bestimmt war, einem
Schüler hätte anvertrauen dürfen.^
Perugino und Raffael.
Wenn wir rückblickend die Tätigkeit Peruginos in Perugia und
Florenz überschauen, so ergibt sich, daß er nur in den Jahren von
1499 bis 1500 und 1502 längere Zeit in Perugia geweilt hat, während er
1 Auch die Untersuchung der Perspektive bestätigt das von uns Gesagte. Herr
Dr. Kern kam nach Prüfung der perspektivischen Verhäitnisse beider Biider zu dem
Resultat, daß das Sposaiizio in Caen nicht nach dem Sposaiizio Raffaels entstanden sein
kann, und faßte seine Beobachtungen folgendermaßen zusammen: Es fehlt dem Sposaiizio
in Caen im strengeren Sinne die perspektivische Einheit. Während die Figurengruppe
des Vordergrundes unter einem Horizont gesehen ist, der die Stirn des Hohenpriesters
überschneidet, fällt der perspektivische Horizont der übrigen Partien des Bildes mit dem
Horizont der im Hintergrund durch den Tempel sichtbar werdenden Wasserfläche zu-
sammen. Ein Mittelgrund ist eigentlich nicht vorhanden, der Hintergrund schließt sich,
wie bei anderen ^primitiven" Bildern perspektivisch unmittelbar an den Vordergrund an.
Die Zeichnung des Tempels weist Widersprüche auf. Die geringe Verkürzung der
Tiefenebenen und parallelen Tiefenlinien an den schräg gesehenen Seiten des Oktogons
deutet auf eine sehr große Entfernung des Malers, bezw. Beschauers von der Architektur
hin. Zu dieser Entfernung tritt die Größe des gemalten Tempels in schroffen Gegen-
satz. Diese Größe läßt sich mit der Flucht der genannten Architekturteile nicht in
Einklang bringen, es sei denn, daß man dem Bauwerk ungeheure Dimensionen zuerkennt.
Der Maßstab für die Figuren des Hintergrundes ist demnach relativ zu groß. Untersucht
man den Bau für sich, so ergeben sich ebenfalls eine Reihe perspektivischer Ungenauig-
keiten. Da das Werk in Caen 1503 nachweisbar noch nicht vollendet war, andererseits
Raffaels Sposaiizio 1504 vollendet wurde, so ist es m. E. unmöglich, daß das erst-
genannte Bild die Kopie nach einem Raffaelschen Werk ist, das um diese
Zeit entstanden wäre. Das Raffaelsche Bild erweist sich mathematisch wie künst-
lerisch als eine vollkommene Raumeinheit. Im Bilde von Caen haben wir trotz der
Hochrenaissance-Architektur ein Werk der Frührenaissance, im Mailänder Bilde hingegen
ein reifes Werk der Hochrenaissance vor uns.
2 Während der französischen Invasion wurde das Sposaiizio Peruginos nach Paris
entführt und auf Grund eines Dekretes der Konsuln des Jahres X (1804) nach Caen
gesandt. Am 11. Juli 1817 forderte der Gonfaloniere von Perugia es zurück; doch blieb
das Gemälde im Museum zu Caen, wo es sich auch heute noch befindet. Siehe «Elenco
dei quadri della Cittä di Perugia domandati dal Gonfaloniere di quella Cittä con supplica
umiliata all' Eccellentissimo Signor Cardinale Segretario di Stato», abgedruckt im <Giorn.
di Erud. Art.", Vol. VI, 1877, Seite 100—101.
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Redaktion des Themas, uns nicht anschiießen können.* In der Kom-
position, in der Formgebung, in der klaren Umrißzeichnung, in der Be-
handlung des Faltenwurfes, in der Zeichnung der Köpfe und der Hände
finden wir die charakteristischen Eigentümlichkeiten der gesicherten Werke
Peruginos wieder. Es erscheint auch unglaubhaft, daß der Meister ein
Bild, das für die vornehmste Kapelle der Stadt bestimmt war, einem
Schüler hätte anvertrauen dürfen.^
Perugino und Raffael.
Wenn wir rückblickend die Tätigkeit Peruginos in Perugia und
Florenz überschauen, so ergibt sich, daß er nur in den Jahren von
1499 bis 1500 und 1502 längere Zeit in Perugia geweilt hat, während er
1 Auch die Untersuchung der Perspektive bestätigt das von uns Gesagte. Herr
Dr. Kern kam nach Prüfung der perspektivischen Verhäitnisse beider Biider zu dem
Resultat, daß das Sposaiizio in Caen nicht nach dem Sposaiizio Raffaels entstanden sein
kann, und faßte seine Beobachtungen folgendermaßen zusammen: Es fehlt dem Sposaiizio
in Caen im strengeren Sinne die perspektivische Einheit. Während die Figurengruppe
des Vordergrundes unter einem Horizont gesehen ist, der die Stirn des Hohenpriesters
überschneidet, fällt der perspektivische Horizont der übrigen Partien des Bildes mit dem
Horizont der im Hintergrund durch den Tempel sichtbar werdenden Wasserfläche zu-
sammen. Ein Mittelgrund ist eigentlich nicht vorhanden, der Hintergrund schließt sich,
wie bei anderen ^primitiven" Bildern perspektivisch unmittelbar an den Vordergrund an.
Die Zeichnung des Tempels weist Widersprüche auf. Die geringe Verkürzung der
Tiefenebenen und parallelen Tiefenlinien an den schräg gesehenen Seiten des Oktogons
deutet auf eine sehr große Entfernung des Malers, bezw. Beschauers von der Architektur
hin. Zu dieser Entfernung tritt die Größe des gemalten Tempels in schroffen Gegen-
satz. Diese Größe läßt sich mit der Flucht der genannten Architekturteile nicht in
Einklang bringen, es sei denn, daß man dem Bauwerk ungeheure Dimensionen zuerkennt.
Der Maßstab für die Figuren des Hintergrundes ist demnach relativ zu groß. Untersucht
man den Bau für sich, so ergeben sich ebenfalls eine Reihe perspektivischer Ungenauig-
keiten. Da das Werk in Caen 1503 nachweisbar noch nicht vollendet war, andererseits
Raffaels Sposaiizio 1504 vollendet wurde, so ist es m. E. unmöglich, daß das erst-
genannte Bild die Kopie nach einem Raffaelschen Werk ist, das um diese
Zeit entstanden wäre. Das Raffaelsche Bild erweist sich mathematisch wie künst-
lerisch als eine vollkommene Raumeinheit. Im Bilde von Caen haben wir trotz der
Hochrenaissance-Architektur ein Werk der Frührenaissance, im Mailänder Bilde hingegen
ein reifes Werk der Hochrenaissance vor uns.
2 Während der französischen Invasion wurde das Sposaiizio Peruginos nach Paris
entführt und auf Grund eines Dekretes der Konsuln des Jahres X (1804) nach Caen
gesandt. Am 11. Juli 1817 forderte der Gonfaloniere von Perugia es zurück; doch blieb
das Gemälde im Museum zu Caen, wo es sich auch heute noch befindet. Siehe «Elenco
dei quadri della Cittä di Perugia domandati dal Gonfaloniere di quella Cittä con supplica
umiliata all' Eccellentissimo Signor Cardinale Segretario di Stato», abgedruckt im <Giorn.
di Erud. Art.", Vol. VI, 1877, Seite 100—101.