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Ein Fanatiker müßte er sein, ein Grübler und Sucher, hilflos deshalb viel-
leicht dem Leben und dem Alltag gegenüber, aber ein Seher auf seinem
Gebiet, ein Vorausahner, ein nie Beirrbarer.
Aus dem Unzulänglichen seiner hohen Kunst müßte ihm der stärkste Impuls
erwachsen, sie mit schöpferischer Kraft zu vervollkommnen.
Keiner von uns, die wir lebten, leben und leben werden, hat mehr zu
leisten als dies: seine Kräfte zu schulen, seine Leistungen zu steigern, um
das Bestmögliche zu schaffen im Dienste der Gemeinschaft seines Volkes.
Mit solchen Leistungen dient er zugleich der Welt.
Ich bin gewiß nicht der erste, würde sich dieser junge Forscher und Arzt
sagen, der sich mit einer besonderen Kernfrage befaßt. Vielleicht war noch
keiner vor mir von ihr so besessen. Jedoch darüber nachgedacht haben vor
mir schon andere, die nicht weniger tüchtig waren, die auch Ausdauer be-
saßen und viel Geduld.
Von diesen, die vor mir waren, und die aufbauten, wie ich weiteraufbauen
will, habe ich das Wissen, daß die Pupille des Menschen rot aufleuchtet,
wenn ich dicht an einer Flamme vorbei ins Auge hineinblicke. Dieser rote
Schleier scheint undurchdringlich zu sein. Damit ist aber nicht bewiesen,
daß er es in Wirklichkeit auch ist.
Wenn es mir gelänge, mir als erstem, einmal zu erkennen, was hinter
diesem roten Schleier ist, dann könnte ich wohl auch einen Einblick ins
Augeninnere gewinnen, das bisher beim lebenden Menschen auch dem besten
Arzt verborgen blieb. Die Hornhaut, die Linse und der Glaskörper des
Auges müssen durchsichtig sein. Wie könnte der Mensch sonst sehen!
Sollte es mit irgendwelchen Mitteln wirklich nicht möglich sein, all das
auch beim lebenden Menschen zu sehen, was ich bisher nur aus Schnitt-
präparaten in den anatomischen Lehrsälen kennenlernte?
Welche Methode muß ich anwenden, damit ich dies Geheimnis löse? Jeder
Versuch sdieitert daran, daß ich selbst geblendet werde. Ich muß also etwas
ganz Neues versuchen. Gott schenkt mir vielleicht die Gnade der Erleuch-
tung. Und wenn auch das Neue wieder mißlingt, muß ich mein Problem
mit abermals neuen Versuchen angehen. Verzagen werde ich nicht, denn auch
bei jedem neuen Mißerfolg bin ich belohnt durch ein stets Unbegreifliches:
den Rausch der Schöpferstunde. Köstlichstes aller Geschenke von schicksals-
höchster Macht: sich einmal über seine eigenen Kräfte hinaus maßlos zu
verschwenden.
Kein Mensch dagegen konnte unromantischer sein als der Erfinder des
Augenspiegels, als der eine Begnadete, der wegbahnend wurde für die
Wissenschaft seiner Zeit, der Erschließet medizinischer Zukunft. Selten auch
war ein Mann phantasieloser und so einseitig aufs Abstrakte, Mathematische
eingestellt wie gerade er. Wenn es das überhaupt gäbe, er hätte die ganze
Vielfältigkeit des Lebens in Fesseln von Formeln gelegt. Als Arzt wurde
er Physiologe und Physiker. Er verlor sich im Gestrüpp der Wissenschaft,
ehe sie ihm die eigentliche Sendung des Arztes offenbarte. Aber als Meister
seiner Doktrin leistete er dann so Großes, daß alle Ärzte der Welt ihm

Hermann v. Helmholtz (1821 —1894),
einer der bedeutendsten Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts, der auf fast allen
Gebieten der Physik und Physiologie neue Anregungen gegeben hat, löste 1850 das
Problem des Augenspiegels. Von 1858 bis 1871 wirkte der große Gelehrte als Pro-
fessor der Physiologie an der Universität Heidelberg. — Nadi einem Gemälde von
Ludwig Knaus aus dem Corpus Imaginum der Photographisdien Gesellschaft Berlin.

unvergänglichen Dank schulden. Nicht nur die Ärzte. Dank schuldet ihm
die ganze Welt.
Der äußerliche Ablauf eines Lebens bleibt unbedeutend und gleichgültig
für einen Wegbahner der Menschheit. Hungerjahre bedeuten nichts für einen
Mann, der in sich die Kraft besitzt, sich durchzusetzen und eigene Wege
zu gehen. Mag es auch nur ein bescheidener Mediziner sein, dem durch
Beziehungen das Glück zuteil wird, die Pepiniere beziehen zu dürfen, um
danach als Militärarzt bescheiden zu wirken.
Da winkt in Königsberg eine Professur für Physiologie. Selbstverständlich
nimmt man sie an. Siedelt von dort später nach dem Westen über. Die
Professur in Bonn wird wiederum mit einem Lehrauftrag in Heidelberg ver-
tauscht. Man arbeitet. Man schafft. Man bewährt sich. Der Lehrstuhl der größten
deutschen Universität wird frei. So kommt man nach Berlin. Oh, man ist
ehrgeizig und strebsam! Man hat bedeutsame Erfolge aufzuweisen. Man hält
in der Berliner Physikalischen Gesellschaft einen grundlegenden Vortrag
über „Die Erhaltung der Kraft“.
Darin zeigt man den Aufriß eines neuen Gesetzes, indem man formuliert:
„Aus einer ähnlichen Untersuchung aller übrigen bekannten physikalischen
und chemischen Vorgänge geht nun hervor, daß das Naturganze einen Vor-
rat wirkungsfähiger Kraft besitzt, welcher in keiner Weise weder vermehrt
noch vermindert werden kann, daß aber die Menge der wirkungsfähigen
Kraft ebenso ewig und unveränderlich ist wie die Menge der Materie. In
dieser Form ausgesprochen, habe ich das allgemeine Gesetz das ,Prinzip
von der Erhaltung der Kraft' genannt.“
Ein Physiker und Physiologe wird zum großen Wegbahner der Menschheit,
und ihm gelingt das Herrliche, die Erfindung des Augenspiegels.
Diese Großtat der Medizin steht gleichwertig neben der Entdeckung des
Tuberkelbazillus und der der Spirochaeta pallida. Neben den erlauchten
Namen von Jenner, der die Schutzimpfung gegen die Pocken erfand, von
Semmelweis, dem Retter der Mütter, der das Kindbettfieber bezwang, von
Behring, der der Diphtheritis ihre Schrecken nahm, steht der Name des
großen Physikers, der das Wunderwerk des Augenspiegels erfand.
Wie es in Lehrbüchern heißt: Ihm gelang es auf Grund mathematisch-
physikalischer Berechnungen dadurch, daß er mit einem Spiegel das Licht
der neben dem Patienten stehenden Lampe in das Auge hineinwarf, den
Augenhintergrund siditbar zu machen. Er wählte als Spiegel ein plan-
paralleles Glasplättchen, durch welches ein Teil der aus dem untersuchten
Auge zurückkehrenden Strahlen in das Auge des Untersuchers zurückfiel.
Die Lösung des letzten Geheimnisses war dann so einfach, daß man sich
wundern könnte, sie nicht eher und leichter gefunden zu haben.
Da die Blickrichtung des untersuchenden Auges in der gleichen Geraden
liegt wie der aus dem Augeninnern zurückkehrende Strahl, muß der zwischen
den beiden Pupillen eingeschaltete Spiegel, der das Licht einer Kerze reflek-
tiert, undurchdringliches Hindernis sein. Ein genialer Einfall beseitigt es
mit grandioser Erwägung.
Wie, wenn man den Augenspiegel in der Mitte durchbohrt?
So gelingt es.
In seiner nüchternen Art, die wenig Aufhebens von eigenen Leistungen macht,
schreibt 1850 der Erfinder des Augenspiegels an seinen Vater: „Man sieht
die Blutgefäße auf das Zierlichste. Arterien und Venen verzweigt, den Ein-
tritt des Sehnerven in das Auge usw. Durch meine Erfindung wird die
speziellste Untersuchung der inneren Gebilde des Auges möglich.“ Er ver-
mag wohl selbst noch nicht abzuschätzen, welch ein Geschenk er der Mensch-
heit gemacht hat. Es ist wichtiger als irgendeine Dichtung von Weltruf.
Uns blieb ein fast unscheinbares Instrument in der Hand des Arztes, ein
Instrument, das unermeßlichen Segen stiftete.
Nur selten denkt noch einer an den Namen seines großen Erfinders.
Er heißt Hermann v. Helmholtz.


Beim Augenarzt.
Untersuchung mit dem Augenspiegel.
Zeichnung von Rudolf Lipus.

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