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Kunsthistorisches Institut <Wien, Universität> [Hrsg.]
Jahrbuch des Kunsthistorischen Institutes — 6.1912

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Tietze-Conrat, Erica: Der Böckchen tragende Satyr: ein Beitrag zur Frage der skulpturalen Kopie und zum Oeuvre Georg Raphael Donners
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https://doi.org/10.11588/diglit.19094#0093
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Der Böckchen tragende Satyr

Ein Beitrag zur Frage der skulpturalen Kopie und zum Oeuvre Georg Raphael Donners

Von E. Tietze-Conrat

Die Anregung, die ein bestehendes Kunstwerk auf den nachschaffenden Künstler aus-
übt, kann eine zweifache sein: die eine, die allein von seinem formalen Inhalt ausgeht, und
die zweite, die zu diesem noch akzessorische Werte verbindet. Im ersten Fall wird in der
Figur, in der Landschaftsdarstellung, in der eigenartig-en Führung eines architektonischen
Details die glückliche Lösung gesehen, auf die der nachschaffende Künstler bei geeigneter
Gelegenheit zurückgreift; der Dornauszieher oder der Ilioneus werden von Ghiberti als
Elemente einer Komposition versetzt, die Landschaftsmotive Dürers werden Gemeingut,
aus dem Maler, Stecher und Bildhauer immer wieder für ihre eigenen Schöpfungen die
Hintergründe entnehmen, die Fassade von S. Marco in Rom ist den Arkaden des Ko-
losseums nachgebildet1). Da es sich immer nur um die Lösung eines bestimmten Problems
handelt, wird bei der Wiedergabe des Vorbildes auf jenes allein Rücksicht genommen;
die übrigen Eigenschaften des Kunstwerkes, und wenn sie noch so wesentliche sind, werden
vernachlässigt, abgeändert. So wird der Dornauszieher seiner isolierten Wirkung als Kunst-
werk beraubt, indem er in einen landschaftlichen Zusammenhang gesetzt ist, und seiner in-
haltlichen Wirkung, indem er zu einer Staffagefigur aktualisiert wird; der Ilioneus wird
durch die Größenreduktion der Monumentalität entkleidet, durch die Übertragung des
originalen Marmors in den Bronzeguß wird seiner charakteristischen formalen Komposition
Gewalt angetan. Bei anderen Stücken werden Variationen oder Ergänzungen vorge-
nommen, wie sie die Einpassung in den Zusammenhang erfordert2), und nirgends drängt
sich die Absicht vor, die Erinnerung an das Vorbild zu wecken.

Im zweiten Fall geht die Anregung von Kunstdenkmälern aus, die über ihren formalen
Inhalt hinaus noch weitere Wertungen erfahren, wie z. B. religiöse oder historische; die
Nachschaffung einer Mariazeller Muttergottesstatue, eines Kaiserporträts für ein ländliches
Schulhaus wird in einem ganz andern Verhältnis zum vorliegenden Original stehen, wie
die Staffageverwendung einer Kartonfigur Michelangelos in den Glasfenstern des Wilhelm
von Marseille im Dom zu Arezzo.

Und so kann auch das antike Original die Nachschaffung um ethischer Werte willen
binden. Dieses wird zumeist dann geschehen, wenn die antike Figur größere Popularität
besitzt, so daß ihre breitere Kenntnis die unauffällige Aufnahme verhindert. Die Wiedergabe

l) Heinrich Wölfflin, Die klassische Kunst, 4. Auf- 2) Vergl. Fr. M. Haberditzi., Studien über Rubens,

läge. München 1908. S. 233. Jahrbuch der Kunsthist. Samml. des allerh. Kaiserh. 1912.
 
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