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Kunsthistorisches Institut <Wien, Universität> [Hrsg.]
Jahrbuch des Kunsthistorischen Institutes — 6.1912

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Tietze-Conrat, Erica: Der Böckchen tragende Satyr: ein Beitrag zur Frage der skulpturalen Kopie und zum Oeuvre Georg Raphael Donners
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https://doi.org/10.11588/diglit.19094#0096
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E. Tietze-Conrat Der Böckchen tragende Satyr

immer derselbe wie bei der Vergleichung des Kunstwerkes mit der Naturvorlage; wie
sehen wir heute manche Figur steif und verzerrt, die den Zeitgenossen zwanglos als Selbst-
erlebnis — als exakte Kopie eingegangen
ist! Wölfflin sagt in seiner klassischen
Kunst (S. 232):^. . . Es wird dabei still-
schweigend vorausgesetzt, daß die einen
wie die anderen die Antike in derselben
Weise gesehen hätten; aber eben diese
Voraussetzung ist anfechtbar. Wenn das
quattrocentistische Auge in der Natur
andere Momente gesehen hat als das
cinquecentistische, so ist es psychologisch
konsequent, daß auch vor der Antike dem
Bewußtsein sich nicht die gleichen Fak-
toren des Anschauungsbildes akzentuier-
ten. Man sieht immer nur das, was man
sucht, und es gehört eine lange Erziehung
dazu . . . um dieses naive Sehen zu über-
winden . . . .“ Und wenige Seiten später
(235 f.), als er von der Veränderung der
Begriffe „von menschlicher Würde und
menschlicher Schönheit“ spricht, die ein
Zusammentreffen des Geschmackes von
Antike und Hochrenaissance erreichen,
da wird es „eine verständliche Konse-
quenz, daß jetzt erst das Auge auch auf
die archäologische Richtigkeit in der
Reproduktion antiker Figuren achten
muß .... Man begann jetzt die Antike
zu sehen, wie sie ist“. Auch dieses letzte
Urteil Wölfflins, der Ausfluß seiner star-
ken künstlerischen Persönlichkeit, scheint
mir in erster Linie für diese Zeugnis
abzulegen. Wölfflin glaubt das Erlebnis,
das er in der Antike findet, jenem gleich,
das die Hochrenaissance in ihr gefunden
hat. Er schließt aus zwei subjektiven
Urteilen — seinem Sehen der Antike,
seinem Sehen der Hochrenaissance — auf
das subjektive Urteil einer vergangenen
Zeit: wie die Hochrenaissance die An-
tike sah. Und es hat den Anschein, als
ob dies Urteil Wölfflins auch selbst von uns, die wir doch Zeitgenossen sind, als ein
subjektives, an seine Person geknüpftes, erkannt würde. Als ob die qualvolle Interpretation
Burckhardts uns den ewig lachenden Sommer Griechenlands geraubt hätte und wir mit

Fig. 39 Der Ziegenträger. Antike in Madrid.
Bruckmanns photographische Einzelaufnahme Nr. 1570
 
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