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Kunsthistorisches Institut <Wien, Universität> [Hrsg.]
Jahrbuch des Kunsthistorischen Institutes — 6.1912

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Tietze-Conrat, Erica: Der Böckchen tragende Satyr: ein Beitrag zur Frage der skulpturalen Kopie und zum Oeuvre Georg Raphael Donners
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https://doi.org/10.11588/diglit.19094#0107
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E, Tietze-Conrat Der Böckchen tragende Satyi

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Locken und dem Kranz des Satyrs und dem Fell des Böckchens nacharbeiten müssen,
weil diese Partien schon im Gips verwaschen kommen. Der wesentliche Unterschied
des Eindruckes beruht aber in der Licht werfenden und Licht fressenden Wirkung- des
andern Materials, die hier keine nachhelfende und ausg-leichende Künstlerhand berück-
sichtigt hat.

Ein Bronzeabguß eines Marmororiginals schaltet nicht, wie ein Gipsabguß, die
Materialwirkung und den organischen Materialzwang aus, sondern setzt einen neuen an
seine Stelle; das kann nur eine Zeit, ein Künstler tun, die ihre plastischen Aufgaben nach
linearen Kompositionsgesetzen lösen und das Material erst bei der Durchmodellierung der
Oberfläche zu berücksichtigen beginnen. Gegen den Gipsabguß steht also der bronzene an
reinem Reproduktionswert zurück, doch steigert das edle Material die dekorative Wirkung; oft
haben für seine Verwendung statt der des Marmors die Möglichkeit, die reine Formerscheinung
mit größerer Akribie wiederzugeben51) und ökonomische Gründe, die Widerstandsfähigkeit
gegen die Unbilden der Witterung, gegen die Fährlichkeiten eines Transportes das letzte Wort
gesprochen. Bei der bewegten Silhouette des Satyrs mag die Verwendung des Gußmaterials
auch für einen Künstler, der in ein bestimmtes Material seine Figuren zu komponieren
pflegt, noch diskutierbar sein; wohl geht das malerische Gegenspiel des Tierfelles zum
glatten Nacken des Satyrs und die feinere Nüance des menschlichen Haares zum kurz
gekräuselten Fell beim Bronzeguß fast ganz verloren und auch der Baumstumpf ist sinn-
los. Doch hat die Skrupellosigkeit dem Materialzwang gegenüber zu manchen Zeiten auch
eindeutig in Marmor gedachte, von ruhigen Linien umflossene, voll durchkomponierte Figuren
durch eine Wiederholung in Bronze vergewaltigt. Ein Beispiel dafür die Venus felix des
Antico nach dem Marmororiginal in der vatikanischen Sammlung52). Die Aufgaben der
Bildhauerei des XV. Jhs. liefen denen der Malerei parallel: die Körper bis ins letzte
Glied zu artikulieren, damit sie dem inhaltlichen Ausdruck des Kunstwerkes dienen können.
Ob Donatello die ganz geschlossene Figur des hl. Franziskus komponiert, er führt sie in
Bronze aus, ebenso wie seinen Holofernes, dessen Beine vom Sitz frei herunterhängen;
und für seine Kindergruppen, die im unterschnittenen Relief gearbeitet sind, nimmt er im
Santo die Bronze, in Prato den Marmor. Die Wandlung in der Malerei durch Lionardo, der
eine stereometrische Bindung der Körper statt ihrer Addition ins Bild stellte, hat auch auf
die Bildhauerei zurückgewirkt und Michelang-elo sucht seine plastischen Gedanken im
Marmorblock zur Erscheinung zu bringen. Gleichzeitig mit ihm und im Gegensatz zu seiner
Kunst leben Bildhauergenerationen, die als Erbe des Quattrocento die Gleichgültigkeit
gegen den Materialzwang- übernommen haben; ihr charakteristischer Vertreter an der
Wende des XV. zum XVI. Jh. ist Antico. Ihm ist die Form alles, ihr Ausdruck in einem
bestimmten Material nichts. Und als Form dient ihm das Beste, das es gibt, das die
gebildete Welt als das Unerreichbare nennt: die Antike. Ihre Motive bringt er und
seinesgleichen als gewachsene Formen, als Darstellungsideen an sich; und die folgende
Generation hat das Repertoire noch um die Lösungen Michelangelos bereichert. Die
Statuette war hierzu vor der großen Figur geeignet; durch das Format, durch Zweck und
Verwendung ist sie vom Dienst der Architektur ausgeschlossen. Sie wird isoliert auf-
gestellt auf den Bort an der Wand, über der Tür; der Amateur hebt sie herunter,
trägt sie zum Fenster, er dreht sie in den Händen und läßt ihr das Licht über den

61) Soldanis Brief vom 6. Juli 1695 zitiert im Kunst- ö2) Hermann a. a. O. Taf. XXXVII und Fig. 20.

historischen Jahrbuch der Zentral-Kommission Bd. V, S. 103.

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