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Hans Tietze Ein Passionszyklus im Stifte Schlägl
Fig. 92 Christus fällt unter dem Kreuz. Stift Schlägl
Denken wir aber an zeitgenössische Bilder in Westdeutschland, etwa an die Kreuzigungen
des Schüppinger Meisters3), so finden wir eine Aneinanderfügung von Menschenklümpchen,
innerhalb derer sich das Raumgefühl bisweilen zu mächtiger Intensität steigert, die aber
zu keiner Einheit zusammengefügt sind. Dieses Archaisieren zeigt, daß sich der Übergang in
die von den Niederlanden her angeregte Vereinheitlichung des Raumausschnittes in ver-
schiedener Weise vollzog und in Niederdeutschland mehr durch eine energisch beherrschte
Seichträumigkeit, in der südostdeutschen Kunst mehr durch ein latentes Streben nach Tief-
räumigkeit vorbereitet war4). Vergleichen wir die Beschneidung Christi im Germanischen
Museum in Nürnberg (Fig. 95), die um 1440 anzusetzen und nach der Übereinstimmung mit
der Darbringung im Tempel der Klosterneuburger Stiftsgalerie5) sicher als österreichisch zu
betrachten ist, mit Bildern Johann Koerbeckes in Münster (Fig. 96 u. 97) oder den Apostel-
martyrien aus der Fochnerschen Werkstatt im Staedelschen Institut0), so erscheint der gleiche
Gegensatz, den wir bei der nächsten Generation als die angestammte Disposition in den ge-
meinsamen niederländischen Einschlag hineinragen sahen, nicht minder vorhanden; hier ein
3) Ferdinand Koch, Ein Beitrag zur Geschichte der
altwestfälischen Malerei in der zweiten Hälfte des XV. Jhs.,
Münster 1899. — Herrn. Schmitz, Soest, in Berühmte Kunst-
stätten 45, Fig. 93.
4) Vgl. Viktor Wallerstein, Die Raumbehandlung in
der oberdeutschen und niederländischen Tafelmalerei der
ersten Hälfte des XV. Jhs., Straßburg 1909, in Studien zur
deutschen Kunstgeschichte, Heft 118, wo das Verhältnis
oberdeutscher und niederdeutscher Raumbehandlung (s. be-
sonders die instruktive Zusammenstellung auf Taf. XI,
S. 49 ff.) eine etwas abweichende Interpretation findet.
5) Drexler-List, Tafelbilder aus dem Museum des
Stiftes Klosterneuburg, Taf. VIII.
6) Scheibler-Aldenhoven, Geschichte der Kölner Ma-
lerschule, Taf. 39.
Hans Tietze Ein Passionszyklus im Stifte Schlägl
Fig. 92 Christus fällt unter dem Kreuz. Stift Schlägl
Denken wir aber an zeitgenössische Bilder in Westdeutschland, etwa an die Kreuzigungen
des Schüppinger Meisters3), so finden wir eine Aneinanderfügung von Menschenklümpchen,
innerhalb derer sich das Raumgefühl bisweilen zu mächtiger Intensität steigert, die aber
zu keiner Einheit zusammengefügt sind. Dieses Archaisieren zeigt, daß sich der Übergang in
die von den Niederlanden her angeregte Vereinheitlichung des Raumausschnittes in ver-
schiedener Weise vollzog und in Niederdeutschland mehr durch eine energisch beherrschte
Seichträumigkeit, in der südostdeutschen Kunst mehr durch ein latentes Streben nach Tief-
räumigkeit vorbereitet war4). Vergleichen wir die Beschneidung Christi im Germanischen
Museum in Nürnberg (Fig. 95), die um 1440 anzusetzen und nach der Übereinstimmung mit
der Darbringung im Tempel der Klosterneuburger Stiftsgalerie5) sicher als österreichisch zu
betrachten ist, mit Bildern Johann Koerbeckes in Münster (Fig. 96 u. 97) oder den Apostel-
martyrien aus der Fochnerschen Werkstatt im Staedelschen Institut0), so erscheint der gleiche
Gegensatz, den wir bei der nächsten Generation als die angestammte Disposition in den ge-
meinsamen niederländischen Einschlag hineinragen sahen, nicht minder vorhanden; hier ein
3) Ferdinand Koch, Ein Beitrag zur Geschichte der
altwestfälischen Malerei in der zweiten Hälfte des XV. Jhs.,
Münster 1899. — Herrn. Schmitz, Soest, in Berühmte Kunst-
stätten 45, Fig. 93.
4) Vgl. Viktor Wallerstein, Die Raumbehandlung in
der oberdeutschen und niederländischen Tafelmalerei der
ersten Hälfte des XV. Jhs., Straßburg 1909, in Studien zur
deutschen Kunstgeschichte, Heft 118, wo das Verhältnis
oberdeutscher und niederdeutscher Raumbehandlung (s. be-
sonders die instruktive Zusammenstellung auf Taf. XI,
S. 49 ff.) eine etwas abweichende Interpretation findet.
5) Drexler-List, Tafelbilder aus dem Museum des
Stiftes Klosterneuburg, Taf. VIII.
6) Scheibler-Aldenhoven, Geschichte der Kölner Ma-
lerschule, Taf. 39.