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Kunsthistorisches Institut <Wien, Universität> [Hrsg.]
Jahrbuch des Kunsthistorischen Institutes — 7.1913

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Weingartner, Josef: Bemalte Bildstöcke in Tirol: Vier charakteristische Beispiele
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https://doi.org/10.11588/diglit.28308#0253
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Josef Weingartner Bemalte Bildstöcke in Tirol

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tung der Gruppen energischer in Angriff genommen
werden konnte. Man vergleiche nur die Gestalt des
hl. Sebastian auf Fig. 13 mit der ähnlichen des
hl. Martinus auf Fig. 17. So flüchtig auch die letztere
hingeworfen ist, so sieht man doch auf den ersten
Blick, wie viel plastischer die jüngere Figur wirkt,
wie die Armhaltung an unmittelbarem Leben, an
Natürlichkeit gewonnen hat und wie besonders am
Kopfe zugleich die konstruktiven Werte klarer erfaßt

sind und an die Stelle der mehr zeichnerischen die
rein malerische Behandlung getreten ist. So konnte
man denn auch bei Szenen, wie bei der Anbetung
der Könige, den in Burgund und Italien ausgebildeten
Figurenreichtum ruhig fahren lassen und dafür die
schlichte Gruppe durch die statuarische und maleri-
sche Umbildung der Einzelfigur neu beleben und
künstlerisch vertiefen. Und unser Bild (Fig. 18) weist
deutlich genug nach dieser Richtung.

Vielleicht noch klarer tritt das bei der Kreuzi-
gung zutage. Die Gruppen der Krieger, der weinen-
den Frauen, die beiden bizarren Schächer, die
Lanzenschäfte und die Spruchbänder, wie sie sich

seit der Mitte des XIV. Jhs. von Italien aus in ganz
Europa verbreiteten und in der speziellen Form des
Layener Bildstockes den um die Mitte des XV. Jhs.
besonders in den deutschen Alpenländern herrschen-
den Typus darstellen, sind endgültig verschwunden.
Doch dafür wird uns nun eine großzügig wirkende
Komposition geboten und auch in der Einzelfigur
pulsiert neues Leben. Maria und Johannes sind nun
vollständig plastisch durchbildet und stehen lebens-
kräftiger auf der Erde als zuvor. Vom heißen
Streben nach plastischer Modellierung und
organischer Gelenksbewegung erzählt uns auch
der Körper des Kruzifixus. Der Trieb nach
plastischer Gestaltung hat sich sogar so be-
langloser Einzelheiten wie der Heiligenscheine
bemächtigt und gibt ihnen eine tellerförmige
Vertiefung.

Zugleich ist die Raumwirkung der Land-
schaft mächtig gesteigert, aber so angeordnet,
daß die Hauptsache, der Kruzifixus, darunter
nicht leidet wie im älteren Bilde, sondern durch
sein Hineinragen in den leeren Luftraum erst
recht hervorgehoben wird. Ein Blick auf die
Turm- und Stadtmauern im Hintergründe be-
weist uns auch, welche Fortschritte die Wirk-
lichkeitsbeobachtung und das perspektivische
Sehen unterdessen gemacht haben.

Die Gemälde unseres Bildstockes stammen
von keinem bahnbrechenden Meister und stellen
nur das Durchschnittsmaß der gleichzeitigen
tirolischen Malerei dar. Aber die eben ge-
schilderte Veränderung hat sich, wie schon
oben gesagt wurde, in Tirol überhaupt nicht
selbständig und unabhängig, sondern nur im
Anschlüsse an die allgemeine Kunstentwick-
lung vollzogen. Gerade an unserem Kreuzi-
gungsbilde trägt z. B. die Landschaft und
die Form der Felsen ihre ursprünglich nieder-
ländische Herkunft noch deutlich an der Stirn.
Aber zugleich ist auch die lokale Eigenart
und speziell die Pacherische Prägung nicht zu
verkennen. Die Faltengebung beim hl. Johannes Ev.,
die stark malerische Behandlung der Köpfe, die
Stadtansicht bei der Kreuzigung, die Auffassung,
ja, schon der Umriß der Madonna mit dem Kinde
und besonders überzeugend der Kopftypus, die
schweren Augenlider, der gekniffene Mund beim
hl. Johannes Bapt. und hl. Martinus (Fig. 17) er-
härten diese Behaupteng zur Genüge. Und damit
ist auch ein Ausgangspunkt für die Datierung des
Bildstockes gefunden. Er dürfte kurz vor oder nach
1500 entstanden sein.

Von Josef Weingartner
 
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