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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 19.1898

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Abhandlungen
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Hermann, Hermann Julius: Miniaturhandschriften aus der Bibliothek des Herzogs Andrea Matteo III. Acquaviva
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https://doi.org/10.11588/diglit.5780#0193
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i78

Hermann Julius Hermann.

Von allen Wissenschaften die vollkommenste ist die Weisheit; sie ist Vernunft und Wissenschaft zu-
gleich, da der Weise nicht nur das, was aus den Principien folgt, wissen sondern auch in Bezug auf die Principien
selbst die Wahrheit besitzen muss. Die Weisheit ist die Wissenschaft und das vernünftige Begreifen der von
Natur erhabensten Dinge. Die iyp6vY;5t? hingegen hat es mit den menschlichen Dingen zu thun, bei denen ein
Ueberlegen stattfindet; sie geht besonders auf das Einzelne. Staatskunst und Klugheit sind dasselbe Verhalten
aber deshalb nicht ein und dasselbe. Während die gesetzgeberische Klugheit die allgemeinen Verhältnisse des
Staates ordnet, bezieht sich die politische Klugheit auf das Einzelne. Vorbedingung zur Einsicht ist Erfahrung
und Geistesschärfe. Die Wohlberathenheit (eüßouXi'a) findet die Mittel zum Ziele der Klugheit, während die
auvect? (Verständigkeit) blos kritisch ist. Die richtige Mitte in Allem bestimmt nun die Einsicht; das Mittel zum
Zwecke zu finden, ist das Ziel des Genies, der Gewandtheit (BcCvöty;?). Ist dieses Ziel ein schlechtes, so wird die
Ssivo-y)? zur zavo'JpYi«, zur List und Verschlagenheit.

f) f. 45': Miniatur zum VI. Buche (Tafel XI).

Die Miniatur zum sechsten Buche der Ethik unterscheidet sich schon in der Anlage von den fünf
vorhergehenden: Durch eine Blattleiste horizontal in zwei Hälften getheilt wie die eben besprochene
Miniatur zum fünften Buche, ist die ganze obere Hälfte der philosophischen Allegorie gewidmet, wäh-
rend die untere Hälfte drei mythologische Scenen in einem Bilde vereinigt.

Wir blicken in eine von einem Flusse durchzogene Hügellandschaft, in deren Hintergrund das
Meer sichtbar wird, gegen welches der tiefblaue Himmel sich ins Gold abtönt. Nur zwei hochstämmige
Bäumchen mit spärlichem Blätterwuchs stehen im Vordergrunde.

In der Mitte erhebt sich auf einem mit Marmorplatten belegten Boden ein grosser prunkvoller
Renaissancebau mit vergoldeten Gesimsen, oben von einer mit einer Muschel gezierten Nische abge-
schlossen. Putten sehen von den Gesimsen herab, Guirlanden mit Perlen, Agraffen und den herzog-
lichen Wappen verleihen der Architektur eine prunkvolle Gesammtwirkung. Die Postamente, auf denen
die ganze Architektur ruht, tragen in blauen Feldern den Namen des Herzogs:

• ANDREAS• • MATHEVS■

•DVX- • ADRIE •

In diesem fast überladenen Nischenbau thront vor einem rothen Vorhang eine Frau mit langem
blonden Haar, in faltenreichem hellvioletten Gewände mit gefältelten, mehrfach zusammengeschnürten
Aermeln. In ihrem Schoosse hält sie eine kleine Sphinx mit Frauenkopf und Löwenleib.

Lambeccius erklärte diese Darstellung als die »naturalis sciendi cupido« und meint mit Fortunius
Licetus,2 die Sphinx versinnbildliche die Ansicht des Aristoteles (Metaphysik im I. Buche), dass die
menschliche Seele aus einem vernünftigen (daher der menschliche Kopf) und unvernünftigen Theile,
den der Mensch mit den Thieren gemeinsam habe (daher der Löwenleib), bestehe. Allein diese Er-
läuterung ist zu gekünstelt und würde auch wenig geeignet sein, die Grundgedanken des Buches zu
illustriren. Aristoteles spricht zwar im zweiten Capitel des sechsten Buches der Ethik wieder von der
Zweitheilung der Seele aber seine Beobachtungen wendet er im vorliegenden Falle nur dem Vernunft
besitzenden Seelentheile zu. Die Sphinx dient in unserem Falle nur zur Verdeutlichung der Allegorie.
Sie ist ein Sinnbild des Räthselhaften, der geheimen Weisheit,3 ein Symbol des Ueberlegens und Er-
rathens. Daraus ergibt sich, dass wir in der allegorischen, weiblichen Gestalt die ^pov^ctc, die Klug-
heitund Einsicht, zu erkennen haben, deren Aufgabe es ja ist, zu überlegen und Erfahrungskenntnisse
zu erwerben. Sie ist von allen dianoetischen Tugenden für die Ethik die wichtigste; denn sie bestimmt
das richtige mittlere Verfahren im Handeln, sie löst das Räthsel, wie sich der Mensch in jedem ein-
zelnen Falle zu verhalten habe.

Damit stehen die unteren Darstellungen im Zusammenhang; sie sollen die der Einsicht nahe-
stehende Gewandtheit (Setvirn;), welche sich ja auch als List und Verschlagenheit (-avsup-j-fa) äussern

1 Das Rp. F. bedeutet die Künstlersignatur; darüber später.

2 De antiquis gemmarum annularium schematibus, cap. 143.

3 In dieser Bedeutung ist sie auch auf den Münzen von Gorgis in Troas, wo sie auf die Weisheit der Sibylle des
Ortes gedeutet wurde, aufzufassen; vgl. Preller, Griechische Mythologie, IV. Auflage, II, 348 f
 
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