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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 22.1901

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I. Theil: Abhandlungen
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Dvořák, Max: Die Illumination des Johann von Neumarkt
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https://doi.org/10.11588/diglit.5948#0075
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Die Illuminatoren des Johann von Neumarkt.

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Dichter die Commentare des Servius zu Ovid.1 Päpste wie Johann XXII. und Clemens VI. betheiligen
sich an der allgemeinen Schwärmerei, die eine so ernste Seite hatte. Clemens VI., der »litterarissimus
pontifex«, wie er von Petrarca genannt wird, empfiehlt den armen Phantasten, welchen die Lehren
der Humanisten den Kopf verdrehten, den Miles sancti spiritus Nicolaus Clemens et Severus mit
warmen Worten den Römern als einen Zelator rei publicae romanae.2 Liest man die herrliche Canzone
Petrarcas an Nicolö, so begreift man, was das bedeutete.3

Doch wir sind gewohnt, einseitig das Grosse dieser Zeit in der neuen nationalen Poesie und in
dem neuerwachten Studium der Antike zu suchen, und vergessen leicht, dass sich parallel in der ge-
sammten Literatur eine Umwälzung vollzogen hat, deren Folgen kaum weniger bedeutend geworden
sind. Der dürftigste Tractat aus dem XV. Jahrhundert, mit Schriften aus dem XII. und XIII. Jahrhundert
verglichen, kann uns über diese Wandlung belehren. Die philologisch-exegetische Methode der mittel-
alterlichen literarischen Production musste überall mehr oder weniger einer sachlichen und inductiven
Anschauung im Denken und Schreiben Platz machen. Das wurde gewiss schon von den älteren Scho-
lastikern begründet; doch erst durch die ungeheure lateinische Literatur des XIV. Jahrhunderts wurden
die neuen Formen des menschlichen Empfindens das allgemeine Fundament der Weiterentwicklung.
Humanismus, Renaissance und Reformation wären ohne sie undenkbar.

Die Zeit der grössten, der ausschliesslichen Beherrschung der wissenschaftlichen Bestrebungen
durch die Universitäten von Paris und Bologna war vorüber. Was man da lernen konnte, wurde durch
Bücher und Studenten verbreitet und geht überall, wo es die culturellen Verhältnisse erlauben, ins
Leben über, vor Allem ins kirchliche Leben. Für das letztere ward nun Avignon das wichtigste Forum.

Es ist nicht meine Aufgabe, alle Schriftsteller, alle Gelehrten aufzuzählen, die wir im Laufe des
XIV. Jahrhunderts dauernd oder vorübergehend in der Residenz der Päpste finden. Es sind führende
Geister darunter, wie Giovanni d'Andrea oder Luigi Marsigli, daneben ganze Reihen solcher, deren
Ruhm und Bedeutung ihre Lebenszeit nicht überdauerte. Aus Avignon verbreiten sich ihre Ideen, dort
werden ihre Schriften verkauft, dort holen sie selbst neue Anregungen. Aus allen Gegenden des Abend-
landes bezieht man Bücher von avignonesischen Buchhändlern, deren Namen uns noch bekannt sind.
Wie im XIII. Jahrhundert an der Sorbonne eine für ihre Zeit immense Bibliothek entstanden ist, wird
nun eine noch grössere in dem Palaste der Päpste zusammengetragen, die uns, abgesehen von der
schönen Literatur, das anschaulichste Bild von den literarischen Strömungen des Zeitalters bietet.4

Analog der literarischen Bedeutung entwickelte sich der allgemeine culturelle Einfluss Avignons.
Es liegt mitten auf dem Wege, welcher die zwei wichtigsten Culturgebiete jener Zeit verbindet: Nord-
frankreich und Italien. Die Päpste waren Franzosen, ihr Hofleben war französisch; doch durch tausend
Fäden war das Papstthum und die Provence mit Italien verbunden. Bis zu dieser Zeit entwickelte sich die
Cultur und Kunst im Ganzen und Grossen im Norden und Süden selbständig, schuf dort und da ver-
schiedene Lebens- und Kunstformen und die Beeinflussung beschränkte sich auf einseitige Anregungen.
In der Zeit der avignonesischen Päpste kreuzen sich zum ersten Male die zwei grossen Culturströme, und
zwar in einer Stadt von solcher centralen Bedeutung wie Avignon. Nach Avignon kamen die welt-
lichen Herrscher und die kirchlichen Hierarchen. Doch nicht nur die. Es sei mir erlaubt, einige Worte
Faucons anzuführen: »Avignon voyait defiler dans ses murs non seulement les personnages que leurs
devoirs ou leurs interets amenaient ä la curie, eveques et abbes astreints ä la visite apostolique, seigneurs
de la parente ou de la cour du pape et des cardinaux, solliciteurs de tout ordre, mais d'innombrables
trafiquants, les pelerins en route pour Saint Jacques en Galice, pour Rome, pour Lorette, pour la Terre
Sainte, les prelats changeant de siege, les religieux changeant de couvent, les prebendes se dirigeant
vers leurs benefices, les professeurs des ecoles italiennes appeles, pour y enseigner, ä Montpellier, ä
Orleans, ä Paris, ä Avignon meme, pourvue d'une universite depuis i3o3, et les etudiants francais allant

1 Faucon, a. a. O., p. 25.

2 Das Empfehlungsschreiben gedruckt bei Papencordt, Cola di Rienzo, S. III ff.

3 Es ist dies die Canzone Spirito gentil, che quelle membra reggi. Vgl. Gaspary, S. 416.

4 Vgl. Ehrle, Historia bibliothecae Romanorum pontificum tum Bonifacianae tum Avenionensis, p. 743 ff.

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