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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 22.1901

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I. Theil: Abhandlungen
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Dvořák, Max: Die Illumination des Johann von Neumarkt
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https://doi.org/10.11588/diglit.5948#0112
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io6

Max Dvofäk.

der von Haies, des Bonaventura und Duns Scotus oder des Albertus Magnus und Thomas von Aquino
blieben stets Bibliothekswerke. Doch das, was wesentlich, einfach und populär in der Bewegung war,
dringt langsam in das gesammte religiöse Leben ein. Es steht dabei nicht am Anfange ein plötzlicher
Enthusiasmus wie in Italien; die theologisch speculative und literarische Erörterung der Fragen ist älter
und beherrscht das ganze XIII. Jahrhundert; erst im XIV. Jahrhundert wird ihr Einfluss tiefer und all-
gemeiner. Die Pharetra des Bonaventura gehörte im XIV. Jahrhundert zu den gelesensten Schriften.
Doch noch weit mehr wirkten in derselben Richtung unbedeutende Werke des XIV. Jahrhunderts ein,
wie die Postille des Nikolaus von Lyra, welche in keiner Handschriftensammlung mangelte. Die mensch-
lichen Dinge entwickeln sich langsam und es bedarf oft Jahrhunderte, bis persönliche Errungenschaften
grosser Individuen vollkommen Gemeingut geworden sind. Erst im XIV. Jahrhundert wurde in der
exegetischen Literatur allgemein bis zu den Hilfsbüchern eines Landpfarrers die philologisch-dogma-
tische Erklärung durch subjective Reflexionen ersetzt. Doch man bedenke, wie sich dann die Grund-
lagen des religiösen Lebens verschieben mussten. Ueberall begegnet uns die Ueberzeugung, dass eine
neue Aera des Christenthums begonnen habe. Die Predigt und die kirchliche Poesie bekam einen
neuen Inhalt und neue Formen. Die ältesten ausserliturgischen Kirchenlieder, die im XIV. Jahrhundert
neben den classischen Hymnen und Sequenzen immer mehr Boden gewinnen, behandeln fast durch-
wegs das Thema: Jesus und Maria. Am deutlichsten offenbart sich der Umschwung in der ungeheuer
anwachsenden Erbauungsliteratur. Ihr Ausgangspunkt kann mit den häufig citirten Versen charakteri-
sirt werden:

Hoc est nescire sine Christo plurima scire,

si Christum bene scis, satis est si coetera nescis.

Betrachtungen über das Leben und Leiden Christi und seiner Mutter und das Lob des Heilands, der
Madonna und der Erlösung bilden den immer wiederkehrenden Inhalt der gelehrten Sermones wie der
poetischen Meditationen und Psalterien und der leicht fasslichen Spiegel, Viten und Tractate. Es ist
bekannt, welche wichtige Rolle diese Literatur in der Reformation spielte. Doch noch wichtiger sind
ihre allgemeinen Vorbedingungen: der neue Bund der christlichen Seele mit Christo, d. h. die Ueber-
windung des formelhaften, doctrinären und hieratischen Christenthums des Mittelalters und die uner-
hört revolutionäre allgemeine Fundirung des religiösen Lebens auf persönlich-psychischen Sensationen.
Vorbilder waren von nun an eine stärkere Stütze der Religiosität als Gebote, Empfindungen eine stär-
kere als Beweise und Erklärungen. Es scheint mir, als ob, wie in allen Sachen, auch in der Religion
sich der Norden das Erbe der Antike erst jetzt völlig angeeignet und es zugleich überwunden hätte.
Sind nicht noch die Kreuzzüge eine Nothbrücke über die Kluft, durch welche das antike Christenthum
und seine barbarischen Bekenner getrennt waren?

Das religiöse Leben bekam einen neuen Inhalt, durch den auch der ideelle Inhalt der Kunstwerke
sehr bald und sehr stark beeinflusst werden musste. In der kirchlichen Ikonographie bedeutet das
XIV. Jahrhundert einen Wendepunkt, welcher ihren ganzen Verlauf in zwei Perioden theilt. Bis zum
Trecento steht die Malerei und Plastik unter dem Einflüsse der decorativen und pädagogischen Auf-
gaben der altchristlichen Kunst, welche ihrem antiken Ursprünge nach historisch und monumental
gewesen ist. In welcher Richtung die religiöse Phantasie im frühen Mittelalter Neues geschaffen hat,
beweisen die derben und plumpen Psalterallegorien. Es sind das Erfindungen einer Bauern- und
Mönchsphantasie culturloser Völker. Auch die Ausschmückung der grossen Kathedralen entwickelte
sich im Wesentlichen noch nach den alten Principien. Sie war so synkretisch wie die gleichzeitige
Literatur. Man hat oft und mit Recht die gothischen Kathedralen mit den gleichzeitigen literarischen
Encyklopädien verglichen, in denen »Stimmen der Todten« unermüdlich gesammelt wurden. Die
Neuerungen sind weit mehr einem neuen oder intensiveren Interesse an den Objecten als einer neuen
religiösen Empfindung entsprungen. Die conventionellen Aufgaben der altchristlichen und mittelalter-
lichen Kunst ersterben in den zahlreichen wurzellosen, theologisch-speculativen Programmdarstel-
lungen. Die endlosen Bilderreihen erzählen ohne jede suggestive Tendenz, man könnte sie leicht
durch andere Erzählungen ersetzen. Man hat bereits im XIII. Jahrhundert diese innere Irreligiosität
 
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