Geschichte der Porträtbildnerei in Wachs.
I73
Fig. 1. Wachskopf aus einem Grabe von Cumae (Museum in Neapel).
I. Kapitel.
Entwicklung seit dem Altertum.
Die Funeralplastik.
An zwei Punkten religiös bestimmten Kulturlebens hat die in graue Vorzeit zurückreichende Kunst
der Keroplasten eingesetzt; in beiden erweist sie sich als Trägerin transzendenter Gedanken, die aus der
sinnlich gegebenen Welt des Menschen in eine hypostasierte jenseits seiner Sinne hinüberreichen. Sie
betreffen das Verhältnis des Lebenden zur Gottheit und des Toten zum Jenseits, wie zur Mit- und Nach-
welt, sind Materialisationen im Bereiche des Voti v glaubens und des Leichenrituals.
Auf beiden Gebieten handelt es sich um nahe verwandte Vorstellungsreihen primitiven Seelen-
lebens. Nicht nur in der Phantasie des Semiten, die diese Dinge am weitesten getrieben hat, haftet am
Abbild des Menschen ein dämonisches Element. Es ist bekannt, daß nach der Überzeugung der Koran-
gläubigen jedes in eitlem Wahn gemachte Bildnis am jüngsten Tage seine Seele vom Maler fordern
wird, der, unvermögend dieser Forderung zu genügen, dann in die Hölle gestürzt wird; denn Gott läßt
es nicht zu, daß man seiner Schöpfung so nahe komme, ohne ihr doch den Hauch des Lebens ein-
blasen zu können. Mit den zuletzt angeführten Worten umschreibt diese Anschauung ein Gesandter
des Bey von Tripolis, der 1704 in Paris weilt und dort nach seiner Weise einer höchst naturalistischen
Wachsbüste der Herzogin von Noailles, von der Hand des damals hochberühmten und geschätzten
Benoist, eine aus Abscheu und Bewunderung seltsam gemischte Anerkennung zollt.1 Aus diesem Emp-
finden des Dämonischen heraus erklärt sich die Vorstellung, daß der Feind am sichersten durch Bild-
zauber zu treffen sei; und gerade das bildsame Wachs hat sich auch diesem Zwecke seit jeher gefügig
erwiesen; die Beispiele, die man vom grauesten Altertum bis auf unsere Tage herab anführen könnte,
1 Zitiert bei Blonde!, a. a. O., 432.
23*
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Fig. 1. Wachskopf aus einem Grabe von Cumae (Museum in Neapel).
I. Kapitel.
Entwicklung seit dem Altertum.
Die Funeralplastik.
An zwei Punkten religiös bestimmten Kulturlebens hat die in graue Vorzeit zurückreichende Kunst
der Keroplasten eingesetzt; in beiden erweist sie sich als Trägerin transzendenter Gedanken, die aus der
sinnlich gegebenen Welt des Menschen in eine hypostasierte jenseits seiner Sinne hinüberreichen. Sie
betreffen das Verhältnis des Lebenden zur Gottheit und des Toten zum Jenseits, wie zur Mit- und Nach-
welt, sind Materialisationen im Bereiche des Voti v glaubens und des Leichenrituals.
Auf beiden Gebieten handelt es sich um nahe verwandte Vorstellungsreihen primitiven Seelen-
lebens. Nicht nur in der Phantasie des Semiten, die diese Dinge am weitesten getrieben hat, haftet am
Abbild des Menschen ein dämonisches Element. Es ist bekannt, daß nach der Überzeugung der Koran-
gläubigen jedes in eitlem Wahn gemachte Bildnis am jüngsten Tage seine Seele vom Maler fordern
wird, der, unvermögend dieser Forderung zu genügen, dann in die Hölle gestürzt wird; denn Gott läßt
es nicht zu, daß man seiner Schöpfung so nahe komme, ohne ihr doch den Hauch des Lebens ein-
blasen zu können. Mit den zuletzt angeführten Worten umschreibt diese Anschauung ein Gesandter
des Bey von Tripolis, der 1704 in Paris weilt und dort nach seiner Weise einer höchst naturalistischen
Wachsbüste der Herzogin von Noailles, von der Hand des damals hochberühmten und geschätzten
Benoist, eine aus Abscheu und Bewunderung seltsam gemischte Anerkennung zollt.1 Aus diesem Emp-
finden des Dämonischen heraus erklärt sich die Vorstellung, daß der Feind am sichersten durch Bild-
zauber zu treffen sei; und gerade das bildsame Wachs hat sich auch diesem Zwecke seit jeher gefügig
erwiesen; die Beispiele, die man vom grauesten Altertum bis auf unsere Tage herab anführen könnte,
1 Zitiert bei Blonde!, a. a. O., 432.
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