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Justi, Carl
Winckelmann, sein Leben, seine Werke und seine Zeitgenossen: mit Skizzen zur Kunst- und Gelehrtengeschichte des 18. Jahrhunderts (Band 2,2): Winckelmann in Italien — 1972

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https://doi.org/10.11588/diglit.52964#0079
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§ 102. Die Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen. 63
Gedächtniß, durch Uebung. . . Das empfindlichste Gefühl kann diese Eigen-
schaft unvollkommnener, als ein geübter Maler ohne Gefühl haben, dergestalt,
daß das eingedrückte Bild allgemein lebhaft und deutlich ist, aber geschwächt
wird, wenn wir uns dasselbe stückweise vorstellen wollen, wie es mit dem
Bild des entfernten Geliebten zu geschehen pflegt".
„Es ist diese Fähigkeit, wie der poetische Geist, eine Gabe des Himmels,
der sie allen vernünftigen Geschöpfen, aber in sehr verschiedenen Graden ge-
geben hat. Wo sie nicht ist, predigt man Blinden die Kenntniß des Schönen,
wie die Musik einem nicht musicalischen Gehör. . . Sie bildet sich aber so
wenig als die Gabe der Dichtkunst, von sich selbst, und würde ohne Lehre
und Unterricht leer und todt bleiben." Aber auch „vernachlässigte Erziehung
kann dieselbe nicht ersticken, wie ich hier an meinem Theile weiß. Sie ist
etwas aristocratischer Natur; auch hier sind „wenige auserwählt". In ihrer
Vollkommenheit ist sie sogar sehr selten; einige scheinen in der Austheilung
derselben von der Natur übergangen zu sein, noch andern ist das Schöne
und das Mittelmäßige gleich willkommen. Diese Seltenheit kann man schon
abnehmen aus dem Mangel an Schriften, welche das Schöne lehren, „solche
sind seit Plato bis heute leer, ohne Unterricht und von niedrigem Gehalt".
Jener unentbehrliche Unterricht besteht aber keineswegs in vielem Wissen.
„Es wickelt sich dieselbe eher an großen als kleinen Orten aus, und im Um-
gang mehr als durch Gelehrsamkeit: denn das viele Wissen, sagen die Griechen,
erweckt keinen gesunden Verstand, und die sich durch bloße Gelehrsamkeit mit
dem Alterthum bekannt gemacht haben, sind auch derselben weiter nicht kundig
geworden."
Denn die Stimme des Gefühls unterscheidet sich durch ihre Unmittel-
barkeit von dem an Muster sich lehnenden Urtheil des Verstandes (§oüt cks
oompuraison) und von dem künstlichen Licht der Grundsätze. Jene ergeht
auf den ersten Blick, wo dieser erst über das Wahrgenommene brüten und'
Beziehungen aller Art herbeirufen muß. „Fertig und schnell muß der innere
Sinn sein, weil die ersten Eindrücke die stärksten sind, und vor der Ueber-
zeugung vorhergehen: was wir durch diese empfinden, ist schwächer. Dieses
ist die allgemeine Rührung, welche uns auf das Schöne zieht, und kann
dunkel und ohne Gründe sein, wie mit allen ersten und schnellen Eindrücken
zu geschehen Pflegt, bis die Untersuchung der Stücke die Ueberzeugung zuläßt,
annimmt und erfordert. Wer hier von den Theilen ans das Ganze gehen
wollte, würde ein grammaticalisches Gehirn zeigen, und schwerlich eine
Empfindung des Ganzen und eine Entzückung in sich erwecken".
Nicht Geschäftigkeit, nicht Arbeit im Schweiß des Angesichts und für die
Noth, sondern freie Muße ist es, in der dieß Gefühl gedeiht. „Dieser Unter-
richt ist nicht für sunge Leute, welche nur um ihr nothdürftiges Brot lernen,
 
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