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griff unterlegt und jeder beschriebenen Orts- und Handlungsänderung eine realisierte
Vorlage zuordnet. Er zweifelt die Abbildbeziehung zwischen poetischer Beschreibung
und Vorlagen nicht an; er setzt die Ausdruckswerte der Malerei denen der Dichtung
gleich und begreift die poetische Beschreibung als verbale Kopie der bildlichen Dar-
stellungen. Homer bewahrte in seiner Schildbeschreibung Kunstwerke der Antike,
die verlorengegangen sind. Ähnlich wie Boivin mit seinen Rekonstruktionen verfährt
Comte de Caylus, der Homers Werk in einen Fundus für malerische Ausführungen
umwandelt8. Wenn von einem solch eindeutigen Abbildverhältnis der beiden Künste
ausgegangen wird, werden die Modi der Darstellung einander angeglichen, denn die
eine Darstellungsweise wird ohne Verlust an Darstellungsinhalt zum Ersatz der
Darstellung durch die Nachbarkunst.
Lessing polemisiert gegen Boivin und Caylus, da für ihn v.a. der Modus der Dar-
stellung gebunden an die Darstellungsmittel das Wesen der Dichtung bzw. Malerei
ausmacht. Zugleich verallgemeinert Lessing die kunsthistorische Tatsache, daß sich
dem Ausdrucksreichtum der Dichtung Homers kein vergleichbarer Ausdrucks-
reichtum der bildenden Kunst zu Homers Zeiten gegenüberstellen läßt. Die griechi-
sche Kunst scheint mit einer Phasenverschiebung zugunsten der Dichtung begonnen
zu haben. Es entsteht eine fast unüberbrückbare Distanz zwischen bildender Kunst
und Dichtung, wenn man die "Kindheit" der Malerei9, ihre Ausdrucksarmut und
Unbeholfenheit in der Abbildung, mit dem Redeschmuck und der realistischen Dar-
stellungsweise Homers vergleicht. Lessing korrigiert nicht die implizite Folgerung
daraus, daß die kunsttechnischen Schwierigkeiten zu einem Kriterium der (Un-)
Vergleichbarkeit der Malerei mit der Dichtung werden. Allerdings lehnt es Lessing
auch nicht ab, mögliche Vorlagen für die einzelnen Szenen anzunehmen. Er will je-
doch die möglichen Vorlagen - entsprechend seiner Auffassung von bildender Kunst -
auf Darstellungen des prägnanten Augenblicks beschränkt wissen. Lessing geht
nicht, wie Hans Chr. Buch schreibt, "von der Annahme aus, daß ein tatsächlich exi-
stierender Schild als Vorlage zu der homerischen Schildbeschreibung gedient habe"10.
Lessing schränkt die Vielzahl der von Boivin angenommenen Vorlagen "auf zehn
verschiedne Gemälde auf dem ganzen Schilde" ein11. Sein Maßstab für eine Rekon-
struktion der Bilder auf dem Schild ist die Darstellung des prägnanten Augenblicks,
der poetisch in mehrere "Gemälde" aufgelöst werden kann12. Lessing selbst gibt keine
bildliche Rekonstruktion des Schildes, sondern liefert nur die Kriterien für eine mög-
liche Rekonstruktion. Es widerspricht seiner Künste-trennenden Lehre, "ut pictura
poesis" über 'Rekonstruktionen' rehabilitieren zu wollen.
8 Caylus, Anne-Claude-Philippe de Tubieres, Tableaux tires de l'Iliade, de l'Odyssee d'Homere et de
l'Eneide de Virgile, avec des observations generales sur le costume, Paris 1757. Lessings Polemik
gegen Caylus: s. Lessing, Bd. V, bes. S. 93 ff., 100 ff.,104 ff.,110 ff., 160 ff.
9 Lessing, Bd. V, S. 143
10 H.C.Buch, Ut Pictura Poesis. Die Beschreibungsliteratur und ihre Kritiker von Lessing bis Lukäcs,
München 1972, S.54.
11 Lessing, Bd. V, S. 142
12 ebd., S. 140 f.
griff unterlegt und jeder beschriebenen Orts- und Handlungsänderung eine realisierte
Vorlage zuordnet. Er zweifelt die Abbildbeziehung zwischen poetischer Beschreibung
und Vorlagen nicht an; er setzt die Ausdruckswerte der Malerei denen der Dichtung
gleich und begreift die poetische Beschreibung als verbale Kopie der bildlichen Dar-
stellungen. Homer bewahrte in seiner Schildbeschreibung Kunstwerke der Antike,
die verlorengegangen sind. Ähnlich wie Boivin mit seinen Rekonstruktionen verfährt
Comte de Caylus, der Homers Werk in einen Fundus für malerische Ausführungen
umwandelt8. Wenn von einem solch eindeutigen Abbildverhältnis der beiden Künste
ausgegangen wird, werden die Modi der Darstellung einander angeglichen, denn die
eine Darstellungsweise wird ohne Verlust an Darstellungsinhalt zum Ersatz der
Darstellung durch die Nachbarkunst.
Lessing polemisiert gegen Boivin und Caylus, da für ihn v.a. der Modus der Dar-
stellung gebunden an die Darstellungsmittel das Wesen der Dichtung bzw. Malerei
ausmacht. Zugleich verallgemeinert Lessing die kunsthistorische Tatsache, daß sich
dem Ausdrucksreichtum der Dichtung Homers kein vergleichbarer Ausdrucks-
reichtum der bildenden Kunst zu Homers Zeiten gegenüberstellen läßt. Die griechi-
sche Kunst scheint mit einer Phasenverschiebung zugunsten der Dichtung begonnen
zu haben. Es entsteht eine fast unüberbrückbare Distanz zwischen bildender Kunst
und Dichtung, wenn man die "Kindheit" der Malerei9, ihre Ausdrucksarmut und
Unbeholfenheit in der Abbildung, mit dem Redeschmuck und der realistischen Dar-
stellungsweise Homers vergleicht. Lessing korrigiert nicht die implizite Folgerung
daraus, daß die kunsttechnischen Schwierigkeiten zu einem Kriterium der (Un-)
Vergleichbarkeit der Malerei mit der Dichtung werden. Allerdings lehnt es Lessing
auch nicht ab, mögliche Vorlagen für die einzelnen Szenen anzunehmen. Er will je-
doch die möglichen Vorlagen - entsprechend seiner Auffassung von bildender Kunst -
auf Darstellungen des prägnanten Augenblicks beschränkt wissen. Lessing geht
nicht, wie Hans Chr. Buch schreibt, "von der Annahme aus, daß ein tatsächlich exi-
stierender Schild als Vorlage zu der homerischen Schildbeschreibung gedient habe"10.
Lessing schränkt die Vielzahl der von Boivin angenommenen Vorlagen "auf zehn
verschiedne Gemälde auf dem ganzen Schilde" ein11. Sein Maßstab für eine Rekon-
struktion der Bilder auf dem Schild ist die Darstellung des prägnanten Augenblicks,
der poetisch in mehrere "Gemälde" aufgelöst werden kann12. Lessing selbst gibt keine
bildliche Rekonstruktion des Schildes, sondern liefert nur die Kriterien für eine mög-
liche Rekonstruktion. Es widerspricht seiner Künste-trennenden Lehre, "ut pictura
poesis" über 'Rekonstruktionen' rehabilitieren zu wollen.
8 Caylus, Anne-Claude-Philippe de Tubieres, Tableaux tires de l'Iliade, de l'Odyssee d'Homere et de
l'Eneide de Virgile, avec des observations generales sur le costume, Paris 1757. Lessings Polemik
gegen Caylus: s. Lessing, Bd. V, bes. S. 93 ff., 100 ff.,104 ff.,110 ff., 160 ff.
9 Lessing, Bd. V, S. 143
10 H.C.Buch, Ut Pictura Poesis. Die Beschreibungsliteratur und ihre Kritiker von Lessing bis Lukäcs,
München 1972, S.54.
11 Lessing, Bd. V, S. 142
12 ebd., S. 140 f.