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Čižek, Franz [Hrsg.]; Kastner, Hermann [Hrsg.]
Das freie Zeichnen: ein Weg für den Unterricht im Zeichnen nach Natur- und Gebrauchsgegenständen — Wien, 1925

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https://doi.org/10.11588/diglit.20028#0007
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VORWORT

Der moderne Zeichenunterricht hat durch die Reformbewegung in den letzten Dezennien
so an Umfang zugenommen, daß an ein restloses Anwenden oder gar Bewältigen aller
seiner vielen Zweige nicht mehr gut zu denken ist. Die durch diese Reichhaltigkeit notwendig
gewordene Auswahl des Stoffes kann mit Rücksicht auf den Schüler, seiner naturalistischen
oder rhythmischen Einstellung entgegenkommend, geschehen, wogegen aus pädagogischen
Gründen keine Einwendung erhoben werden kann, oder diese Differenzierung wird, was
schon nicht mehr so einwandfrei, aber dennoch begreiflich erscheint, von der Individualität
des Lehrers, von seiner Vorliebe, seinem besonderen Können beeinflußt. In jedem Falle
ist das Zurückstellen des einen oder des anderen wichtigen Gebietes — wichtig sind sie
alle — immerhin möglich. Die Schulung des phantasiemäßigen Ausdruckes, die Bildung
der Hand in kunstgerechter Arbeit, das Erstarken des zeichnerischen Könnens an dem
Studium der Natur, das eine oder das andere, kann unter diesem Zwange eine Ein-
schränkung erfahren, die nicht mehr im Geiste der Unterrichtserneuerung selbst liegt.

Aus diesem Grunde ist das Erscheinen des vorliegenden Werkes eine Notwendigkeit.
Es erinnert an Erfordernisse des gesamten Unterrichtes: an die Ausbildung des Auges
und die Auswertung der in der Natur liegenden Bildungskräfte.

Es kann kein Zufall sein, daß auf dem besonders geeigneten Boden unserer Stadt
die Erneuerung des Zeichenunterrichtes — sie ist hier völlig spontan in die Wege geleitet
worden und trug vom Anfange an, darüber wird später noch gesprochen werden, eine
eigene künstlerische Physiognomie — mit der Rückkehr zur Natur begann, zunächst
alles Historische, das im Unterrichte unzeitgemäß und unverstanden fortlebte, verwarf,
um den Weg für das Neue, das mit dem Schüler, mit Kunst und Gegenwart rechnen
wollte, freizubekommen. Es wurde damit ein entwicklungsgemäßer Schritt getan, den
die Wege der Kunst oft wie gesetzmäßig aufweisen.

Man kann nicht alle Schüler zu Künstlern oder zu Kunstgenießern erziehen, aber
es ist möglich, im Interesse des praktischen und des schönen Lebens sie zu guten
Beobachtern heranzubilden, sie sehen und lesen zu lehren, was Leben und Kunst, diese
wenigstens an Äußerlichem, bieten. Wenn es gelingt, die Schüler dahin zu bringen, die
Natur nicht stumpf abzuschreiben, sondern denkend wiederzugeben, den persönlichen
Ausdruck in gut erarbeiteten Studien zu vervollkommnen, dann haben sie auch einen
beträchtlichen Teil dessen errungen, was sie im praktischen Leben, das so oft den
graphischen Ausdruck verlangt, notwendig brauchen. Vieles davon gehört auch zum
Rüstzeug des Künstlers. Indem der Schüler, elementar genommen, einen kleinen Teil
des Weges selbst geht, den der Künstler in seinem Werden gehen mußte, trägt auch
das Naturstudium dazu bei, wenigstens formale Werte eines Kunstwerkes zu begreifen,
und damit ist auch ein erster Schritt im Dienste der Kunsterziehung gemacht.

In dem vorliegenden Werke ist eine Systematik des Naturzeichnens gegeben, die
von den Anfängen des direkten Naturauffassens bis auf hohe Stufen des Unterrichtes reicht.
Die ersten Studien nach linearen und flächenhaften Modellen, die Übungen im räumlichen
Sehen, die Arbeiten nach Pflanzen und Tieren — die obere Grenze wird durch das
Können der Schüler und die Schulgattung festgelegt — sind ohne weiteres für Volks-
und Bürgerschulen und andere Anstalten, die Schüler gleichen Alters haben, geeignet. Die
schwierigeren Probleme reichen viel höher hinauf. Die gewerbliche Note, die in deko-
rativen Blättern, Skizzierübungen und fachlichen Studien zu erkennen ist, macht die
vorliegende Arbeit für Gewerbe- und Fachschulen tauglich, die Lückenlosigkeit nicht
allein für den allgemeinen Unterricht, sondern auch für das Selbststudium.

HERMANN KASTNER
 
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