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Kerschensteiner, Georg
Die Entwickelung der zeichnerischen Begabung: neue Ergebnisse auf Grund neuer Untersuchungen — München, 1905

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https://doi.org/10.11588/diglit.27816#0014
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Vorwort.

jetzt überhaupt keine Untersuchung vorhanden ; über die Fähigkeit
des Kindes den dreidimensionalen Raum im zweidimensionalen Bilde
wiederzugeben, also über das Verhältnis des Kindes zur bildlichen
Raumkunst, haben wir zwar einige Feststellungen, aber sie sind von
sehr zweifelhaftem Werte.

Der Zeichenunterricht aber, mit dessen Reform sich heute so
viele Kongresse, Bücher und Reden beschäftigen, auf dessen Altar
so viele alte Götzen geschlachtet und neue erhoben werden, benötigt
vor allem Untersuchungen über die graphische Ausdrucksfähigkeit des
Kindes, die jenseits des bisher so fleissig untersuchten Gebietes liegen.
Wie entwickelt sich im Kinde ohne systematische Beeinflussung der
graphische Ausdruck bis zur künstlerischen Darstellung? Welche
durchschnittliche Flöhe lässt sich bei den verschiedenen Altersstufen
und den verschiedenen Stoffgebieten erwarten ? In welchem Alter
stellt sich die nötige Reife für gewisse Aufgaben ein ? Ist eine nennens-
werte Produktivität vorhanden ? Oder ruht die graphische Ausdrucks-
fähigkeit des Kindes in erster Linie auf reiner Gedächtnisbegabung?
Wie stellt sich das Kind zur dekorativen Kunst, wie zur absoluten
Raumkunst? Hat Gedächtniszeichnen oder Naturzeichnen eine grössere
Bedeutung für ein gewisses Alter?

Es mögen jetzt sieben Jahre verflossen sein, als ich mich an-
gesichts der zahllosen Reformvorschläge, die wie Hornissenschwärme
den Schulverwaltungsbeamten überfielen, entschloss, diese Fragen zur
Lösung zu bringen. Dabei hatte ich den seltenen Vorteil, dass das
Schülermaterial der Münchner Volksschulen, von der obersten (achten)
Klasse abgesehen, nach Lehrplänen und Methoden im Zeichnen
arbeiteten, welche den natürlichen graphischen Ausdrucksbegabungen
völlig ungefährlich waren. Sie verkrochen sich höchstens während
der Unterrichtsstunden angesichts der mehr oder weniger langweiligen
geometrischen Ornamente, um ausserhalb der Schule um so fröhlicher
auf eigene Faust sich herumzutummeln. So hatte ich eine sichere
Gewähr dafür, dass die Ergebnisse meiner Untersuchungen die
natürliche Entwickelung des graphischen Ausdrucks werden er-
kennen lassen.

In der langen Zeit meiner Versuche, die sich über die sämt-
lichen Volksschulkinder der Stadt München erstreckten (im Jahre
1904 ungefähr 58000), sammelten sich etwa eine halbe Million
Kinderzeichnungen an, von denen ich ungefähr 300000 für die
 
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