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Kerschensteiner, Georg
Die Entwickelung der zeichnerischen Begabung: neue Ergebnisse auf Grund neuer Untersuchungen — München, 1905

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https://doi.org/10.11588/diglit.27816#0015
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Vorwort.

XI

nachfolgenden Untersuchungen selbst verarbeitet habe. Die Er-
gebnisse lohnten reichlich die aufgewendeten Mühen. Nicht nur
viele neue Fragen fanden ihre Lösung, sondern auch ganz unerwartete
Ergebnisse stellten sich ein, so die höchst merkwürdige Differenzierung
der Geschlechter in der zeichnerischen Begabung, das verschiedene
Verhalten von Stadt- und Landkindern, der Zusammenhang von
Intellekt und graphischer Ausdrucksfähigkeit, die auffallende Er-
scheinung zusammenhangsloser Darstellungen bei Schwachbegabten
und anderes mehr.

Die hauptsächlichsten Ergebnisse dieser Arbeit, die ich auf Seite
486 und 487 zusammengefasst habe, werden daher nicht nur den
praktischen Erzieher und Schulaufsichtsbeamten, sondern auch den
Psychologen, Kunsthistoriker, Ethnographen und nicht zuletzt den
Künstler selbst interessieren.

Insbesondere wird auch die relative Höhe des rein künstlerischen
Ausdruckes, wie er sich sowohl inbezug auf die freie als auf die
dekorative Kunst in den verschiedenen Lebensaltern des Kindes zeigt,
eine allgemeinere Anteilnahme erregen können. Ob eine solche
frühzeitig vorhandene künstlerische Ausdrucksfähigkeit einst die ent-
sprechende Entwickelung zur höchsten Kunst nehmen wird, lässt sich
freilich vorerst noch nicht feststellen. Ich habe zum Vergleiche mit
den im Buche abgebildeten hervorragenden Leistungen unserer
Münchner Schulkinder Albrecht Dürers Selbstbildnis aus seinem
13. Lebensjahre und eine Zeichnung Hans Thomas, die er im Alter
von 15 Jahren von seiner Mutter gefertigt hat und deren Abdruck
ich seiner grossen Liebenswürdigkeit verdanke, dem Buche als Titel-
blätter vorausgestellt. Ex ungue leonem. Man betrachte dazu etwa
die Tafeln 29—32 oder 43—45 ! Die Leistungen der beiden Münchner
Knaben stehen auf gleicher Höhe mit den Leistungen der zwei Knaben,
die einst die Titelblätter fertigten. Werden sie sich auch nur annähernd
wie diese entwickeln? Wer kann es sagen? Wir haben bis jetzt
noch kein objektives, untrügliches Mass für wahre Begabung, weder
für graphische, noch für musikalische, noch für sprachliche, wie wir
auch noch kein sicheres Mass haben für grosse Abstraktionsfähigkeit,
wissenschaftlich oder künstlerisch wertvolle Phantasie, starke kombi-
natorische Veranlagung, Beobachtungs- und technische Begabung.
Wir erkennen diese Qualitäten gewöhnlich erst, wenn sie. in voller
Blüte stehen, nicht aber im Knospenzustande. Es wird eine ungemein
 
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