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Kerschensteiner, Georg
Die Entwickelung der zeichnerischen Begabung: neue Ergebnisse auf Grund neuer Untersuchungen — München, 1905

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https://doi.org/10.11588/diglit.27816#0524
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5o4

Die Entwickelung der zeichnerischen Begabung.

Das Produktive
im Schulleben.

Organisation überall da, wo es die lokalen Verhältnisse erlauben. Sie
wird sie bringen in dem Masse, als experimentelle Methoden
uns Mittel an die Hand geben werden, die Begabungs-
differe-nzen auch wirklich zu erkennen, Mittel, die wir
heute freilich noch nicht besitzen. Ja, sie wird nicht nur die
geistigen Zwerge in besondere Klassen sammeln müssen, sondern
sie wird auch den geistigen Riesen Gelegenheit verschaffen müssen,
auf jenen Gebieten mit Siebenmeilenstiefeln vorwärtszuschreiten, wo
ihre Kraft liegt, genau ebenso, wie wir heute den englischen
Vollblutrenner in seiner Aufzucht anders behandeln als den
Ackergaul. Nicht bloss die Kostbarkeit solcher Begabungen an
sich verlangt es, sondern auch die Ökonomie des Nationalver-
mögens. Da wo die Begabung so einfach zu erkennen ist, wie beim
Zeichnen, wird es nicht bloss nützlich sondern auch notwendig, sein,
heute schon einen Ergänzungsunterricht einzuführen, in welchem die
kleinen Künstler ohne Unterschied ihres Alters freie Bahn für ihre
Entwickelung finden. Solche Zentralzeichenkurse kosten nicht viel
und rentieren sich glänzend.

Eine zweite Reihe von Gedanken haben die vorliegenden Unter-
suchungen aufs neue angeregt, als ich die Ursprünglichkeit, Naivität und
Gestaltungsfreudigkeit zahlreicher Leistungen bemerkte. Wenn wir heute
unsere allgemeinen Schulen betrachten, so können wir uns des Ein-
drucks nicht verschliessen, dass sie so eine Art Mastanstalten sind.
Tausend Hände und Köpfe sind im Deutschen Reiche beschäftigt,
die' geistige Nahrung an unseren Volks- und Mittelschulen immer
methodischer, immer rationeller, immer peinlicher, immer umständlicher
vorzubereiten und zu zerkleinern, damit der Speisebrei in möglichst
grossen Mengen dem Schüler gereicht und von ihm möglichst glatt
verdaut wird. Dass die Kinder geistige Zähne haben, welche ähnlich
wie die Zähne des Eichhörnchens nur dadurch scharf gehalten werden
können, dass sie. beständig Nüsse und sonstige harte Dinge knacken,
ist wohl in den Lehrbüchern für Methodik gewöhnlich angedeutet.
Aber sehr häufig sind es dieselben Pädagogen, welche den Unter-
richtsbetrieb mit methodischen Zerkleinerungsmaschinen versehen,
als hätten sie einen Speisebrei herzustellen für zahnlose Greise eines
Spitales. Ich kenne ein zweihundert Seiten starkes ausschliesslich
methodisches Buch, wie man das Rechnen im Zahlenraum i—20 be-
handeln muss, um dem Kinde die Fähigkeit beizubringen, damit es
lerne, wie viel neun und sieben ist, und sein Verfasser nannte dieses
Buch eine Lebensarbeit. Ich kenne noch viel dickere Bücher, welche
ebenso mit dem Anschauungsunterricht, mit dem heimatkundlichen
 
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