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Kunstgewerbliche Rundschau: Verkündigungsblatt des Verbandes Deutscher Kunstgewerbevereine — 3.1896

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https://doi.org/10.11588/diglit.8033#0086
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86

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II. Die Lederarbeiten.

ie vielleicht befriedigendste, wenn auch bescheidenste Erschei-
nung im Nancx>er Kunstgewerbe stellt die künstlerische Leder-
bearbeitung dar, der man, so ansxruchslos das cZebiet ist,
eine relative Anerkennnng am Wenigsten versagen kann.
Frankreich ist überall da am glücklichsten, wo es mit seiner
Malerei wirken kann, mit seinein eminent entwickelten Farben- und
zeichnerischen Sinn, wo alle anderen nicht direct künstlerischen Factoren
zurücktreten. Man verwendet das Leder hauxtsächlich zu Bucheinbänden
und dergl., also zu Awecken, bei
denen nicht der praktische Nutz-
werth entscheidet. Der Buchein-
band dars malerisch wirken, und
daher findet hier die namentlich
in den jüngeren Franzosen speci-
fisch decorative Alalerei ein neues
Feld, aus dem mancherlei Wirk-
ungen erlaubt sind oder leichter
verstanden und besser gewürdigt
werden können, die im Gemälde
auf der Leinwand den Betrachter
verwirren oder abstoßen. Jn die-
ser Erweiterung des künstlerischen
Wirkungsgcbietes liegt überhaupt
eincr der tieferen Gründe, aus
denen die neue Bewegung er-
wächst. Alle die Aünstler, die von
der Reaction gegen den Naturalis-
mus unserer Zeit getrieben wer-
den, in irgend einer Form über
die unmittelbare Natijr hinaus-
zugehen, in denen ein Drang nach
Stilisirung einerseits, nach kühn-
erenFarbenwirknngen andererseits
arbeitet und die als „Naler" beim
Publikum Dank ihrer besonderen
Veranlagungen unmöglich wären,
sie finden aus dem Gebiet der
angewandten Aunst, dem das
Publikum noch abwartend und
neugierig, weniger blasirt und
vor Allem weniger princixienstark
gegenübersteht, ihre ökonomische
Lxistenz. Man muß diese Momente
im Auge behalten, um die höchst
problematische Berechtigung zu erkennen, mit der man diese Bestrebungen
dem Aunstgewerbe zurechnet. 5ehr oft ist es nur ein Ltiquett, um die
kvare gangbarer zu machen und den kserrn Bourgeois an der Nase herum-
zuführen. <Ls ist nichts lustiger, als den gesinnungstüchtigen Aritiker
halb toll vor Wuth vor einem Bild herumspringen zu sehen, das ihm
mit Recht oder Unrecht wie ein eingerahmter bsohn auf alles 5ollen
und Müssen der Aunst erscheint; und dann die veränderung in seinen
Zügen zu beobachten, wenn er auf dem Schildchen liest, daß er es mit
einem Tepxichentwurf zu thun hat; wie da die lvuth jener toleranten
Gleichgiltigkeit weicht, die man sür Ltwas, das Einen nichts ängeht, übrig
zu haben pflegt. Aber diese scheinbare Uncontrollirbarkeit des Gebietes
hat ihre ernsten Gefahren, denen in Frankreich gar mancher Aünstler

unterliegt. Ls ist ein böser Irrthum, zu glauben, daß man sich außer-
halb aller Gesetze stellt, wenn man sich aus dieses Gebiet begibt, dessen
in Frankreich noch wenig erkannte vorschristen in lvirklichkeit viel
schärfer sind, als der ewig wandelbare Lodex der mit Recht „frei" ge-
nannten Aünste.

Das von den Lederkünstlern Nancys gewählte kleine Gebiet
kommt vielleicht der Anarchie, in der Alles erlaubt ist, am nächsten.
Es hat einen für manche Aünstler sehr wesentlichen Vorzug vor der

Malerei voraus: tendenziös und
bewußt gegenständlich sein zu
dürfen. Da der Linband zum
Buch gehört, ist es nur natürlich,
daß er in seiner Zeichnung den
Lharakter des Buches zu verrathen
sucht und die Grundidee, die in
demBuch enthalten ist, symbolisirt.
Diese Beziehung, die geistvollen
Leuten die Lntfaltung all' ihres
Lsprits gestattet, hat in Nancy
äuch gar manche Monstren der
Buchbinderei entstehen lassen;
Linbände, die „Selbstzweck" ge-
worden sind, die das Buch er-
drücken, anstatt es zu bekleiden;
indiscrete Ieichnungen, die den
litterarischen Lharakter des^Buchs
vergröbern, oder decorativeMotive,
die eher für ein Uirchenfenster
passen würden und in dieser ver-
kleinerung wirkungslos bleiben.
— Im Allgemeinen sorgt aber
der Geschmack, der in Frankreich
so oft die ästhetische Bildung
glücklich ersetzt, bei den Nancyer
Lederkünstlern dafür, daß die Re-
geln des Gleichgewichts gehalten
werden, auch wenn ihre Lehre
nicht deutlich zum Bewußtsein
gelangt. Die überwiegende Mehr-
zahl der Arbeiten sind gelungene
jdroben eines großen verständnisses
sür die Eualitäten des Materials
und einer sehr entwickelten tech-
nischen Geschicklichkeit.

In der Technik ist man auf die alte Ledermosaik zurückgegangen,
man erhält die Bilder durch Zusammenfügen verschieden farbiger
Lederstücke; zuweilen kommen auch Reliefarbeiten in einem Stück, wie
sie der Pariser Lexöre so glänzend versteht, dabei vor, die Aussparung
der Bildflächen durch chemische Mittel, dann natürlich Gravirungen —
zumal bei den Details —, endlich Lonibinationen dieser Verfahren.—
Auffallend und bezeichnend ist die völlige vernachlässigung der alten
französischen Gravirung ä petits tsrs, der Frankreich zu Zeiten seiner
großen vergolder wie Trautz-Bauzonnet seinen Ruf als das Land der
Reliure verdankte und die heute noch in Paris mit zweifelhaftem Lr-
solg getrieben wird, während sie in Lngland, Amerika, Dänemark und
Belgien neu entstanden ist und sich dort als Träger moderner stilistischer


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