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xc Röschen Müllcr an Hildegard Lchulhe. -50

Flundersdorf, im September.

Geliebte Hildegard!

Der schöne Somnier ist vorüber, und unaushaltsam entgleitet der letzte
Zipfel der Saison unseren Händen, die ihn so gern festhalten mochten. Der
Strand vereinsamt mehr und mehr, und in den Anlagen vor dem Kurhause
erblickt man fast nur noch Kellner. Siebt man die schwarzen, srackbekleideten
Gestalten in einem Hausen zusammenstehen, so must man an eine Schar von
Schwalben denken, die sich versammelt, um die Rege nach einem schöneren
Süden anzutreten. Vielleicht führe ich gelegentlich diesen Gedanken in einem
Hcrbstliede weiter aus.

Auch das Meer drängt zum Aufbruch und wird gegen den kleinen Rest
von Badegästen, der mit ihm noch Fühlung hat, immer kühler. Gestern
hatte es nur noch 13 Grad Celsius, und wenn man es nach der RSaumur-
schcn Methode mißt, soll es, wie Bruder Fritz fest behauptet, noch kälter
sein; doch das sind naturwissenschaftliche Fragen, in die ich mich nicht
mengen Ivill.

So werden auch wir denn bald die Koffer packen und die Heimreise
antreten. „Und ist der Sommer noch so schön, einmal must er zu Ende
gehn", sagt Schiller, und so will ich denn, wie er an einer andern Stelle
räth, das Unvermeidliche mit Würde tragen. Schön war er wenigstens,
d. h. der Sommer. Die Genüsse, die er uns bot, waren freilich überiviegend
materieller Natur, aber auch diese soll der Mensch, in dessen Brust bekannt-
lich zwei Seelen wohnen, nicht verachten. Bruder Fritz zieht mich natürlich
in der Weise, die Du genügend an ihm kennst, mit meinem gesunden Appetit
auf. Er behauptet, die von nur verzehrten Spickaale würden eine Linie
bilden, die von hier noch weit über Misdroy hinaus reichen müstte, und
wenn man die Flundern, die ich vertilgt habe, als Schindeln verwendete, so
könnte man niehrere Fischerhäuser damit decken; ich lasse mich das aber nicht
aufechten, sie haben mir sehr gut geschmeckt. Die dazu gehörende Gilkaflasche
wollte uns Papa wegen der Spritvertheuerung höher hängen, aber wir haben
es nicht gelitten, denn es handelt sich doch, wie selbst Fürst Bismarck früher
einmal am Tisch des Bundesraths erklärt hat, um ein unentbehrliches Nah-
rungsmittel. Ich werde das letzte Gläschen auf das Wohl Richters trinken,
für den ich sonst nicht schwärme. Er hat, wenn er auch das schärfere An-
ziehen der Steuerschraube nicht aushallen konnte, doch ivenigstens den Ring
gesprengt.

Die geistigen Genüsse traten, >vie ich schon bemerkt habe, etwas zurück;
sie bestanden meist in dem Kritisiren der übrigen Badegäste und dem Hören
und Weilererzählen von allerlei kleinen Geschichten aus der Gesellschaft.
Etwas Abwechslung brachten zuweilen heftige Scenen zwischen Papa und Mama.

Einmal war es ganz besonders schlimm. Du weißt, Papa macht, i»i,
viele ältere Herren, zuweilen gen, ein Spielchen, und so hatte er sich denn
eines Abends in einem Hinterzimmer des Kurhauses von sogenannte» guten
Freunden einen Hundertmarkschein abnehmen lassen. Natürlich entberfte
Mama, die sein Portemonnaie wöchentlich dreimal revidirt, bald den Verlust
Papa, der seine Nothlügen gern möglichst wahrheitsgemäß einkleidet, erklärte,
er habe de» Schein zwischen dem Herren- und dem Dameubade — zwischen
beiden liegt nämlich das Kurhaus — verloren und ihn nachher nicht wieder,
finden können. Mama wendet sich in ihrer resoluten Weise gleich an den
öffentlichen Ausrufer, und nun denke Dir Papas Schrecke», als plötzlich der
Schein unter genauer Angabe unseres Namens und unserer Wohnung jm
ganzen Ort als verloren ausgerufen und der ehrliche Finder uni Ablieferung
gebeten wird. Natürlich kam die Sache jetzt durch die schadenfrohen Spiel-
genossen heraus, und da gab es denn einen Sturm, der bei Papa eine lange
anhaltende Depression zurückliest.

Wenn ich nun auch ungern von der See scheide, so freue ich mich doch
lvieder aus Berlin mit seinen vielseitigen Anregungen, besonders natürlich
aus die Kunstausstellung. Daß alle Damenportraits, aus denen die Abgemalt,
nicht in einem weißen Kleide vor einer weißen Wand sitzt, von der Jury
erbarmungslos zurückgewiesen sind, ist ganz in der Ordnung. Weis, auf
Weis, ist nun einmal ietzt die Loosung, und es ist erfreulich, das, fast alle
unsere Maler, denen sonst so oft Eigensinn und Rechthaberei zum Vorwurf
gemacht wird, den, im vorigen Jahre von Mist Grant gegebenem Beispiel
gcsolgt sind.

Ich habe mich, da meine Verhältnisse mir kein Oel gestatten, wenigstens
weist vor einer weißen Wand photographiren lassen. Ich sah, wie der
Photograph mit einem heimlichen Seitenblick auf seine» Gehilfen sich mit
dem Zeigefinger mehrnials vor die Stirn tippte, was natürlich heißen sollte:
„Warum bin ich Dummkopf nicht längst auf dies Arrangement gekommen!"

Tante Aurelie arbeitet hier an der Skizze zu einem großen Gemälde,
dessen Inhalt sie mich jüngst errathen ließ. Ich rielh auf Columbus, wie
er auf dem Erdglobus mit dem Zirkel den nächsten Weg nach Amerika mis-
mistt, in Wirklichkeit aber ist es Virchow, der an Windthorst Schädri-
messungen vornimmt. Da Virchow nicht hier ist, malt ihn Tante nach
einem alten Fischer, der ihm nach der Versicherung eines hier badenden
Abgeordneten sehr ähnlich sieht; Windthorst, den Tante einmal von der
Zuschauertribüne des Reichstags gesehen hat, wird aus der Erinnerung von
hinten gemalt.

Gewiß sind beide Männer bedeutend »ud interessant, aber es ist doch
ein Trost, daß es auch noch jüngere gibt, und so grüßt und küßt Dich in
Aussicht auf die gemeinschastlich zu vertanzendcn Winterabende von Herzen
Dein Röschen.

T li e o i( o c S t o r m

zum siebzigsten Geburtstag.

Was sollen wir dem Manne bieten,

Dem theuern, das ihn freu' und ehr'?

Gib, Heide, deine letzten Blüthr»

Zum Strauß für deinen Dichter her!

Ein Dichter! — ach, wie viele nennen
Sich so, die nicht des Namens werth.

Wer hat von allen, die wir kennen,

So treu, wie er, die Kunst verehrt?

Mog' er in Rüstigkeit erleben,

In froher Kraft noch manches Jahr,

Und gern noch weiter an uns geben,

Was ihm Geschenk der Muse war.

Die „Windthorstspende" ist nach der „Germania" aus 80,800 M.
angewachsen. Bedeutend erscheint diese Summe eben nicht, wenn nian be-
denkt, daß in Hannover eine Kirche gebaut, innerlich ausgestattet und mit
Märthrergebein, wie man sagt, sogar mit einem zweiten heiligen Rock ver-
sehen werden soll.

Wäre es da nicht besser, die kleine Excellenz gäbe ein großartiges Bei-
spiel von Toleranz und brächte die 60,800 Mark dem für Berlin in Aussicht
genommene» Lutherdenkmal zum Opfer? Das wäre eine Windthorstspende,
die — wir glauben es behaupten zu können — sogar dem heiligen Vater
imponiren würde.

Zur Lesicuerung nnsTnmfiFdlcr JDectfipapiece.

In Regierungskreisen ist der Gedanke aufgetaucht, ausländische Werth-
papiere einer Besteuerung zu unterziehen. Es handelt sich jetzt darum, de»
geeigneten Modus dafür zu finden.

Sie »ach den, Flächenmaß zu besteuern, das wäre eine Idee, der man
näher treten könnte. Von anderer Seite wird der Vorschlag gemacht, die
Papiere nach dem Gelvicht zu besteueni, und auch das ließe sich hören.
Wenn aber ein sonst sehr findiger Geheimrath vorschlägt, eine Besteuerung
in der Weise herbeizuführen, daß den Besitzen! ausländischer Werthpapiere
die Verpflichtung aufcrlegt Ivird, die jedesmal fälligen Coupons an den Staat
abzuliefern, welcher sie alsdann für seine Rechnung einlöst, so wißen wir
wirklich nicht, welch ein Vergnügen nach vollständiger Aufhebung des Zins-
genusses noch mit dem Besitz derartiger Papiere verbunden sein könnte.
Vielleicht weiß der Geheimrath es.

In Berlin sollen nächstens Hebungen im schnellen Verlassen der Börse
angestellt werden. Man denkt das plötzliche Hinausströmen zu bewirken durch
einen Schreckensruf, welchen ein damit beauftragter Herr ausstößt. Wie
dieser Schreckensrus zu lauten hat, darüber ist man sich noch nicht ganz einig.
Einige schlagen vor: „Die Erde bebt!" andere: „Der Russe kommt!" noch
andere: „Rothschild ist pleite!" Vielleicht entscheidet man sich dafür, alle drei
Schreckensruse gleichzeitig erschallen zu lasse».

Seit dem Trierer Katholikentage ist für Windthorst in Bekanntenkreise»
die Bezeichnung „Ludwig der Augur" aufgekommen. Wenn der große
Mann sich selbst so nennen hört, umspielt seinen Mund ein angenehmes
Lächeln.
 
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