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V. RÜCKBLICK

Damit ist der Kreis der Betrachtungen über die schlesische Buchmalerei in drei Jahr-
hunderten geschlossen. Die kunstgeschichtlichen Ergebnisse jeder einzelnen Periode gehen
entweder aus dem Text unmittelbar hervor oder sind am Schluß der Hauptabschnitte noch
einmal zusammengefaßt. Ein Überblick im Großen aber ist schon deshalb wichtig, weil es
sich um Kulturäußerungen eines bedrohten Grenzlandes handelt: eines Grenzlandes, das so
bedroht war, daß noch 1922 ganze Teile zu Polen geschlagen werden konnten und daß auch
auf das Kernland von polnischer wie tschechischer Seite immer wieder Ansprüche erhoben
wurden. Dabei halten wir vor allem zwei Gesichtspunkte im Auge: die Entwicklung im allge-
meinen und die besondere Prägung, die ihr der schlesische Stammescharakter gegeben hat.
Schon die romanische Zeit (etwa 1240-1270) lenkt die schlesische Buchmalerei in ihre ent-
scheidende Richtung. Vorbild wird die mitteldeutsche Kunst, die „thüringische-sächsische“
Malerschule mit ihren Verzweigungen nach Niedersachsen und in die obersächsische Provinz
— eineWahl, die umso bedeutsamer ist, als das politische Schicksal Schlesiens noch keineswegs
entschieden war. Dabei tritt sogleich ein schlesischer Zug in Erscheinung: die Neigung zur
Milderung maßloser Formenergien, zum breiten Beharren und zu sanfter Vertiefung. Mit sel-
tener Stetigkeit vollzieht sich dann der Übergang zum gotischen Stil (um 1280-1351), der wie
überall in Mitteleuropa aus der reichen Quelle der französisch-englischen Buchkunst schöpft.
Zunächst äußerlich durch Aufnahme einzelner Ziermotive, dann innerlich, indem die einzelne
Gestalt auf lineare Reinheit, das Bildganze nach den Gesetzen der Zentralität, Symmetrie und
Gleichgewichtigkeit durchgebildet wird. Aber mit dieser allgemeinen Einwirkung englisch-
französischer Buchmalerei, die auf geradem Wege durch Import vermittelt war, ist’s auch
getan. Eine Vorliebe für den Zierbuchstaben macht sich geltend, die nur noch in Böhmen ihres-
gleichen hat, und die Filigraninitiale wird zu solcher Pracht und solchem Gewicht entwickelt,
daß sie die bildliche Darstellung beinahe ersetzen kann. Was aber das Figurenbild betrifft, so
sieht man von der antikischen „Schönheit“ westlicher Gestalten grundsätzlich ab, und alles,
was es in den Kreuzigungen R 164 und M 1151 an Haltung, Ausdruck und Gebärde gibt, ist
in die schlesische Sprache übersetzt. Als dann mit der Regierung Karls IV. der Mittelpunkt
des deutschen Reiches nach Prag verlegt wird, versteht es sich von selbst, daß auch die schle-
sische Buchmalerei in den Bann der böhmischen Kunst gerät, die sich unter der Einwirkung
Italiens zu seltenem Glanz entfaltete und weit in die Nachbarlande ausstrahlte. Wie zögernd
man freilich der böhmischen Weise folgte, soweit sie fremde Motive und fremde Gestalt-
 
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