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Der Kreis: Zeitschrift für künstlerische Kultur ; Organ der Hamburger Bühne — 8.1931

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Nr. 3 (März)
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https://doi.org/10.11588/diglit.43624#0163
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Zunächst ist es die Wahrheit der Handlung, die Ernst
in der Novelle erstrebt. Diese Gattung erlaubt keine Konzession an
den Zufall oder das bloß Wahrscheinliche. Sie besitzt nur in ihrem
Herzstück ein irrationales Element, den ,,Falken“, wie Heyse ihn
genannt hat. Gesetzmäßig rollt im übrigen ihre Handlung ab, ein
höheres Wollen scheint Rad in Rad greifen zu lassen, und so ist
es richtig, wenn Ernst die Novelle ,,Weltanschauungsdichtung“
nennt. Wenn man allerdings in den zahlreichen Novellenbänden
Paul Ernsts, den „Komödianten- und Spitzbubengeschichten“, den
„Geschichten von deutscher Art“, den „Liebesgeschichten“, den
„Geschichten zwischen Traum und Tag“, den „Romantischen Ge-
schichten“, oder welche es seien, nach einer Weltanschauung sucht,
so wird man nicht jene sittliche „Weltanschauung“ finden, die des
Spießers heilige Gefühle umfaßt. Diese Novellen sind amoralisch
wie Boccaccios Dekamerone und wie all dessen Nachkommen in
Italien, Spanien, Frankreich, die Paul Ernst in seinen Neuausgaben
erschlossen hat. Jene Außersittlichkeit, die dennoch „Weltan-
schauung“ ist, da sie Schicksal und Charakter in ihrer wechsel-
seitigen Verknüpfung zeigt, herrscht fast durchweg in den Novellen.
Einmal, in den „Komödianten- und Spitzbubengeschichten“, fand
sie einen ihr so vollkommen angemessenen Stoff, daß hier wohl das
zarteste und scharmanteste entstanden ist, was Ernst geschaffen hat.
Komödianten und Spitzbuben haben das gemeinsam, daß sie außer-
halb der bürgerlichen Welt, außerhalb der herrschenden Moral
stehen, daß sie ihre eigenen, nicht minder liebenswürdigen Gesetze
haben. Die Schauspieler der alten Comedia delLarte, die welt-
bekannten Lazaroni und Gauner der Stadt Rom befinden sich in
der gleichen Lage der „Unehrlichkeit“, Da ergeben sich denn Ver-
wicklungen und Möglichkeiten seltsamster Art, Wie schlau und
verschmitzt spinnen die Leutchen ihre kleinen Intrigen und wie
menschlich löst sich alles am Ende, In einer wundersamen, lust-
und leidvollen Phantasiewelt schweben sie alle, denn Phantasie ist
ja ihre stärkste Seite; über dem zauberhaften Gaukelspiel ihrer
Erfindungen vergessen sie selig die Wirklichkeit, Nur darin unter-
scheiden sich die Spitzbuben von den Komödianten, daß sie ihre
erstaunlichen Einfälle an der wirklichen Welt erproben, daß sie ihr
Spiel mit den anderen Menschen treiben, nicht mit sich selbst.
Man muß schon, wie Ernst selber zu Boccaccio, zu den alt-
italienischen und altfranzösischen Novellendichtern zurückgehen, um
des Dichters Absicht zu begreifen, sein Können zu ermessen. Es
ist wirklich so, daß man seinen Erzählungsbänden altvertraute,
langhinschwingende Überschriften geben möchte, wie sie Boccaccios
Dekaden einleiten: Da ist der Band „Romantische Geschichten“, in
welchem von Menschen ferner Länder und früherer Zeiten die Rede
ist, von Liebesverwicklungen und seltsamen Schicksalen, wie sie
in vornehmen Kreisen zu geschehen pflegen , , ,, da sind die „Ge-
scnichten zwischen Traum und Tag“, in denen berichtet wird von

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