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Der Kreis: Zeitschrift für künstlerische Kultur ; Organ der Hamburger Bühne — 8.1931

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Nr. 10 (Oktober)
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https://doi.org/10.11588/diglit.43624#0607
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Ehe wir jedoch am Exempel Spengler das studieren, als was
sich die Großspurigkeit heute darstellt, wollen wir fragen, wie die
Mißgestalt des Großspurigen in unserer Zeit zustande gekommen
sein mag.
Ein großer Schriftsteller des 19, Jahrhunderts, dessen Größe heute
verborgen liegt, weil er diesem Jahrhundert nicht den Prozeß
machte, mag uns hier einen Hinweis geben, „Solche Widersprüche“
— so schrieb Konst an tin Rößler 1888 — „wie wir sie bei,, ,
finden, sind unvermeidlich bei dem Überreichtum unserer Zeit an
geistigen Gestalten, welche leben wollen und sich durcheinander-
drängen, Es ist eine Riesenaufgabe, sich nicht bloß mit vorge-
haltenem Ellenbogen hindurchzudrängen, sondern das Ge-
wühl zu harmonischem Reigen zu zwingen,“
Hier ist eine Situation angesprochen, die sich bis in unsere Tage
durchhält. Der vorgehaltene Ellenbogen, d, h, die dringliche Not-
wendigkeit für jeden, der etwas zu sagen hat, sich durch eine un-
verwechselbare eigene Note, durch verblüffenden Aspekt und eine
keinen Zweifel duldende Bestimmtheit des Vortrages, durch einen
Anschein also der Erstmaligkeit wie der apodiktischen
Gewißheit des Vorgetragenen und durch einen Anschein der
Einmaligkeit und der Unfehlbarkeit des Vortragenden
einen Platz in der öffentlichen Meinung zu sichern, einem
Gefährt, das immer schon besetzt ist und nur sehr widerwillig einen
neuen Passagier zu jenem Ziel mitnimmt, bei dem alle Insassen
ankommen wollen, nämlich zum Empfang durch das lesende Publi-
kum — dieser vorgehaltene Ellenbogen ist seitdem und bis heute
das Sinnbild des Schriftstellers,
Was davon die Folge sein würde, spürte die seismographische
Empfindlichkeit Sören Kierkegaards noch ehe jener Zu-
stand eingetreten war. Ihm verdanken wir jene klassische Unter-
suchung über die tragisch-ironische Gestalt des „wesentlichen
Schriftstellers“ — eine Untersuchung, auf deren Weg er das Gegen-
bild, die Mißgestalt des „vorläufigen Schriftstellers“ entdeckt, „Der
vorläufige Schriftsteller“ — so heißt es 1846 — „hat weder Zeit
noch Geduld, das Nähere auszudenken; er meint ungefähr so: wenn
nun bloß Geschrei gemacht wird, so laut, daß es über das ganze
Land gehört wird, daß es von allen Menschen gelesen wird, daß nur
davon in allen Gesellschaften geredet wird, so kann man zufrieden
sein. Er meint, daß das Geschrei wie eine Wünschelrute sei — und
er hat nicht bemerkt, daß fast alle Ausschreier geworden sind, die
sozusagen mit vereinten Kräften schreien; er trägt ja selbst das
Seine dazu bei, dadurch, daß er wünscht, was er zu bieten hat:
Geschrei, so ausgebreitet wie möglich. Es entgeht ihm ganz, daß
es doch vernünftiger wäre, wenn ein Mann, besonders in unserer
Zeit, in der Zeit des Geschreis, so dächte: Geschrei wird nun genug
gemacht, es ist darum besser, wenn ich mich enthalte und mich für
eine konkretere Überlegung sammle,“ Und Kierkegaard prägt das

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