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Der Kreis: Zeitschrift für künstlerische Kultur ; Organ der Hamburger Bühne — 8.1931

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Nr. 10 (Oktober)
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https://doi.org/10.11588/diglit.43624#0608
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schöne Bild von der Löschmannschaft, die, statt zu löschen, immer-
fort Feuer! schreit, „Wenn wir alle Geschrei machen wollen, wer
soll dann auf das Geschrei hin zu Hilfe eilen?“
Wie der vorgehaltene Ellenbogen als das optische, so mögen wir
den Feueralarm als das akustische Sinnbild einer unsichtbaren Gilde
von großspurigen Schriftstellern gelten lassen.
Insbesondere aber vermögen wir in dem Bilde der mit vorgehalte-
nem Ellenbogen Feueralarm schlagenden Mißgestalten die mannig-
faches Unheil verkündenden Kassandren unserer Tage wieder
zu erkennen — jene noch in einem anderen Sinne vorläufigen,
nämlich mit Siebenmeilenstiefeln in eine von ihnen erschaute Zu-
kunft vor-laufenden Schriftsteller unserer Tage.
Aber sieht es nicht so aus, als ob in unseren Tagen die Dinge
so liegen, daß Kassandra geradezu „gefragt“ ist? Fürwahr, es
scheint, als ob das Bewußtwerden dessen, daß man doch nicht recht
Bescheid wisse, worin sich das Glück gründe, immer mehr in den
„gewöhnlichen Menschen“ Platz greift, und so haben denn — unge-
achtet alles Verzagens an Wissenschaft und Bildung und alles bei-
fällig a.ufgenommenen „Kulturabbaus“ — die vorgehaltenen Ellen-
bogen und die Feurio-rufenden Löschmannschaften ihre guten
Tage, Es glaubt ihnen nun schon jeder, wenn sie schreien, daß heute
eine Krise sei.
Doch schon hier, an dieser Rede von der Krise, müssen wir
ihren Lauf zu hemmen suchen. Denn es besteht begründeter Ver-
dacht, daß sie, die so genau zu sagen wissen, was es mit der heuti-
gen „Krise“ auf sich hat und wohin sich diese Krise „entwickeln“
werde und auf was für eine „Tat“ es ankomme — daß sie, diese
scheinbar so wohlinformierten, nicht wissen, was eine Krise
ist. Sie greifen diese von irgendwoher im Schwange befindliche
Vokabel auf und hantieren mit ihr, ohne zu wissen, was sie be-
deutet.
Denn: was ist eine Krise? Wer spricht unter was für Umständen
von einer Krise? — Im prägnanten Sinne kann allein der Arzt
von der Krise einer Krankheit sprechen — demjenigen Zustand
nämlich, in dem die „Natur“, die Konstitution des Kranken, und
nicht er, der Arzt, darüber entscheidet, ob der Kranke durchhält
oder stirbt. Solange er den Verlauf der Krankheit zum Voraus
weiß, ist noch keine Krise eingetreten.
Es liegt also, wie wir sehen, im Begriff der Krise begründet, daß
sich keine Voraussage darüber treffen läßt, was sich nach „Ablauf“
der Krise ereignen wird.
Statt nun „das Nähere auszudenken“ und sich „für eine kon-
kretere Überlegung zu sammeln“, sich also zu fragen, ob die mannig-
fachen Störungen unserer Tage etwa den Charakter einer Krise
haben oder nicht, lautet das Alarmgeschrei unserer Vorläufigen
dahin, daß dies eine Krise sei und daß sie auch wüßten, was nach-
her kommen werde — ein Geschrei, aus dem der Leser, würde er

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