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Der Kreis: Zeitschrift für künstlerische Kultur ; Organ der Hamburger Bühne — 8.1931

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Nr. 10 (Oktober)
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https://doi.org/10.11588/diglit.43624#0609
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überlegen, den Schluß ziehen müßte, daß dies folglich keine
Krise sei und daß also auch wohl hinter dem Alarm nicht viel
stecke.
Da der Leser aber nicht überlegt, bestaunt er diese Kunde
und läßt sich sagen, daß der Künder in das Geheimnis des
W e 111 a u f s Einblick gewonnen hat. Da nun das Geheimnis nicht
jedem zugänglich ist, sondern nur dem, den die Götter damit be-
gnadet oder verflucht haben, also dem Seher, so hat der vorge-
haltene Ellenbogen sein Ziel erreicht: der Alarmschreier hat Gel-
tung als ein B e gn ade t e r. Er gilt als der, der mehr weiß, als
alle anderen je wissen können, als der, der im Buche des
Schicksals gelesen hat. Daß er, eine am laufenden Band einer
Vokabelwerkstatt stehende Kassandra, nur Unheil kündet, vermag
ihm nichts anzuhaben. Denn anders als die Trojaner, die der Un-
heilsprophezeiung auswichen, liebt das lesende Publikum von heute
jenes Gruseln, das den Blick in das eigene zukünftige Verderben
begleitet.
Darum nun sind auch unsere Kassandren nicht wie jene, in deren
Seele sich einst Schiller versenkte, geplagt und geschlagen von
ihrem Gott, sondern voll selbstgefälligen Stolzes, Sie sind davor
bewahrt, ihr „gequältes Herz einsam in die Wüste zu tragen“ und
zu verlangen, daß der Gott ihnen „ihre Blindheit und den fröhlich
dunklen Sinn“ wiedergebe. Ihnen ist es nicht schrecklich, „seiner
Wahrheit sterbliches Gefäß zu sein“. Vielmehr bieten sie ihre
düstere Kunde mit weltmännischem Behagen, oder, wie Spengler
sagt, mit „stolzer Skepsis“ an,
„Das Verhängte muß geschehen, das Gefürchtete muß nahn“ —
so spricht Schillers Kassandra, und auch Spengler äußert sich in
gleichem Sinne: „Das.Schicksal des Menschen ist im Laufe und muß
sich vollenden,“ — Allerdings ist da ein gewichtiger Unterschied.
Was Kassandra vorhersehen muß, ist das Verderben der Ihrigen;
die „bleichen Larven“, die Proserpina ihr sendet, sind die Schatten
derer, die sie liebt, und die heute noch leben. Bei Spengler hin-
gegen hat sich zwar der Untergang Trojas zu dem des ganzen
„Abendlandes“ erweitert, aber im gleichen Maße wie der Umfang
dessen, was vom Untergang bedroht ist, wächst, schwindet auch der
innere Anlaß zur Pein des Vorherwissens, Spengler etwa kann es
sich leisten, eine stoische Miene angesichts dieses Unheils zu be-
wahren, Denn was unter gehen und „vergessen werden“ (S, 88)
wird, ist etwas ganz Unpersönliches: der „faustische Mensch“ und
seine „Eisenbahnen und Dampfschiffe“,
So ist nun allerdings das Unheil nicht ganz so entsetzlich, und
den Leser ergreift der Verdacht, als sei die Kassandrabinde am Ende
nur ein koketter Schmuck des vorläufigen Propheten, Ist es doch,
wie wir erfahren, nur die Technik, die „von innen verzehrt
werden“ wird.

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