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Künstle, Karl [Editor]; Kraus, Franz Xaver [Honoree]
Die Pfarrkirche St. Peter und Paul in Reichenau-Niederzell und ihre neuentdeckten Wandgemälde: eine Festschrift Franz Xaver Kraus zum 60. Geburtstag am 18.8.1900 — Freiburg (i.Br.), 1901

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.7768#0044
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Zum Schlüsse seien noch folgende Apsidal-
bilder aus dem Kanton Tessin erwähnt, die aber
nicht mit Sicherheit datiert werden können1 :

Die Kapelle S. Carlo oberhalb Prugiasco
zeigt Christus in der Mandorla mit der Rechten
segnend und mit der Linken das Buch haltend;
darunter die Apostel und Evangelisten, welch
letzteren die evangelistischen Zeichen als Köpfe
dienen. S. Maria del Castello im oberen
Tessin weist Christus in einer ovalen Glorie
mit den Zeichen der Evangelisten auf, darunter
einzelne Heiligengestalten. Derselbe Gegenstand
findet sich in S. Nicola in Giornico. Einen
ganz altertümlichen Eindruck macht die Maiestas
Domini in der Kirche zu Biasca, während hier
die Evangelisten, die malend, schreibend oder
lesend an Tischen sitzen, eine spätere Zuthat
sind und vielleicht erst dem 16. Jahrhundert
angehören.

Uberschauen wir diese lange Reihe von Apsi-
dalbildern, so lassen sich folgende Gruppen unter-
scheiden :

1. die altchristliche vom 4. bis zum
9. Jahrhundert. Als ihr Grundschema kann
die Apside von S. Cosmas und Damian gelten:
Christus, der Lehrer der Welt, zwischen Petrus
und Paulus mit den Titelheiligen; darunter in
einem schmalen Streifen die symbolischen Lämmer;

2. die ravennatische mit dem jugend-
lichen Christustypus, umgeben von Engeln und
Symbolen;

3. die frühmittelalterliche (Nepi, S. An-
gelo in Formis): Zerlegung des Apsidalbildes in
zwei Hauptzonen, Vorliebe für Engel als Begleiter
der Maiestas Domini;

4. die römische des 12. und 13. Jahr-
hunderts (S. demente, S. Maria in Trastevere
etc.): den Mittelpunkt bildet das Kreuz oder die
Krönung Mariens;

5. die byzantinische: Maria als Orante,
das Brustbild Christi;

6. die deutsche des 12. und 13. Jahr-
hunderts: Christus stets in der Mandorla mit

1 Vgl. Bahn, Geschichte der bildenden Künste in der
Schweiz S. 686 ff

den Evangelistenzeichen, gewöhnlich eine zweite
von Fenstern durchbrochene Zone mit Heiligen-
figuren; die Apostel werden an die Seitenwände
verwiesen.

Mit diesen sechs Gruppen haben wir unser
in drei Zonen geteiltes Reichenauer Apsidalbild
zu vergleichen. Die oberste Zone stellt dar:
Christus in der Mandorla, umgeben von den
Evangelistenzeichen, verehrt von den Apostel-
fürsten und zwei Cherubim auf geflügelten
Rädern; eine vollständige Reihe der zwölf unter
Arkaden sitzenden Apostel als Zeugen und Ver-
kündiger der Herrlichkeit Christi füllt die zweite
Zone; zwölf unter Arkaden stehende Propheten
als Vertreter des die Herrlichkeit des Erlösers
verheifsenden alttestamentlichen Prophetentums
bilden als unterste Zone den Abschlufs des Ge-
mäldes.

Wie verhalten sich nun die deutschen Ap-
sidalbilder und insbesondere unser Reichenauer
Fund zu den übrigen Gruppen, unter welchen
Einflüssen entwickelte sich ihr Cyklus?

Zunächst ist augenscheinlich, dafs sie von
der byzantinischen Gruppe durchaus zu trennen
sind; ebensowenig sind sie von der ravennatischen
beeinflufst. Auffallender ist aber die Thatsache,
dafs sie auch mit den Erzeugnissen der römi-
schen Basiliken des 12. und 13. Jahrhunderts
nichts gemein haben. Sie gehen vielmehr von
den Gruppen 1 und 3 aus, also den altchrist-
lichen und frühmittelalterlichen Typen, verzichten
auf alles symbolische Beiwerk (Lämmer etc.) mit
Ausnahme der evangelistischen Zeichen. Aber
auch die byzantinisierenden Elemente, die sich
in Gruppe 3 anerkanntermafsen finden, werden
von den deutschen Künstlern nicht übernommen.
Sklavisch kopieren sie also ihre Vorlagen nicht.
Eigentümlich ist einigen deutschen Apsidalbildern
ein profaner oder unbiblischer Zug: in Gernrode
erscheint Herzog Gero und in Soest mehrere
Kaiserfiguren. Beachtenswert ist weiter die That-
sache, dafs in Deutschland die Apostel, also
wesentliche Begleiterscheinungen des alten Ap-
sidalcyklus, vielfach in der Apside keine Stätte
mehr finden, sondern an die Chorwände ver-
wiesen werden. Hervorgerufen wurde diese Sitte

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