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Kugler, Franz; Lübke, Wilhelm [Editor]
Handbuch der Kunstgeschichte — Stuttgart, Band 2.1861

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https://doi.org/10.11588/diglit.27233#0035
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Allgemeiner Charakter.

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eyklischer Bild erfolgen. Das gedanklich dogmatische Element, zum
Tlieil in symbolischer Fassung, ist auch hier, wie schon in der Kunst des
romanischen Styles, die Hauptsache. Aber der unmittelbare Bezug zu
der baulichen Gliederung, die stets enge Umgränzung der einzelnen bild-
nerischen Darstellung durch die baulichen Formen nimmt dieser gleich-
zeitig die Gelegenheit zur breiteren, selbständig freieren Entfaltung.
Ueberall bleiben die Gestalten einzeln für sich, ob zum Theil auch in
unermesslicher Fülle, in Nischen, Tabernakeln, Fenstergittern, nebenein-
ander geordnet, bleiben die Gruppen in enge Füllungen (z. B. die Lünet-
ten der Portale) zusammengepresst und hiemit auf das Nothwendigste
beschränkt. Der gedankliche Gehalt, schon an sich mit Formen von ty-
pischem Gepräge leicht befriedigt, findet somit im Wesentlichen nur in der
Darstellungsweise, welche das architektonisch formale Gesetz vorgezeichnet
hatte, seinen Ausdruck. Was sich hievon als Ausnahme geltend macht,
beruht auf Verhältnissen, denen im Einzelnen Rechnung zu tragen ist.

Die Composition des bildnerischen und des dekorativen Einzelwer-
kes gothischer Kunst steht nicht minder unter dem gebieterischen Ein-
flüsse des Gesammtsystems. Ueberall zeigt sich der Reflex jener Totalität
und gegenseitigen Bedingtheit der wirkenden Kräfte; überall, ungleich
entscheidender als bei den Stylformen andrer Epochen, findet sich die
Hindeutung auf das architektonische Bedingniss, die zum Theil sehr weit
getriebene Nachahmung der baulichen Formen, die ursprünglich einem
besonderen structiven Systeme zum besonderen ästhetischen Ausdrucke
dienen sollten. Die bildnerische Gestalt wagt es nicht, frei zu erschei-
nen ; sie bedarf des Baldachins, des Tabernakeleinschlusses zur Sicherung
und Rechtfertigung ihrer Existenz; zusammengesetzte Werke veranlassen
eine überaus reiche Durchbildung, eine bunt dekorative Aufgipfelung die-
ser architektonischen Umgebung. Ebenso schmückt sich das Prachtgeräth
mit Formen, welche das System des architektonischen Aufbaues nachbilden,
zumeist sehr weit über seinen eigentlichen formalen Zweck hinaus, oft in
zierlichstem Spiele, oft freilich auch, ein natürliches Ergebniss handwerks-
mässigen Betriebes, in sehr gedankenloser Verwendung dieser Formen. —

Die Kunst des gothischen Styles gedeiht, nach ihren ersten, zögern-
den Anfängen, in rascher Folge zu jener Entwickelung, welche ihre in-
nerliche Consequenz, das durchgehend Charakteristische und Beziehungs-
weise ihrer Erscheinungen feststellt, welche sie zum bewältigenden Ausdrucke
der Zeitstimmung macht und die Ausbreitung ihrer Herrschaft sichert.
Die romanische Form, wie hartnäckig diese in einzelnen Distrikten auch
ihr Dasein zu behaupten sucht, zu wie hoher Vollendung sie sich in ein-
zelnen Fällen ausgebildet, welche Zugeständnisse sie in einzelnen Werken
schon dem gothischen System gemacht hatte, muss im Laufe der Zeit
überall den Ansprüchen des letzteren weichen. In stets gesteigertem
Maasse vermehren sich die Kräfte zur stets kunstreicheren Durchbildung
dieses Systems. Aber das System hatte von vornherein den Keim der
Auflösung in sich. Schon in jener Verbindung des Widersprechenden,
worauf seine Existenz beruhte, in der Verbindung der höchsten spiritua-
listischen Tendenz mit der Kälte des Handwerkes, lag dieser Keim; künst-
liche Speculation und Schematismus waren die Folge davon. Weiter
 
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