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Kugler, Franz; Lübke, Wilhelm [Hrsg.]
Handbuch der Kunstgeschichte — Stuttgart, Band 2.1861

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https://doi.org/10.11588/diglit.27233#0036
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B. Die Kunst des gothischen Styles.

eingreifende Beeinträchtigungen mussten sich ergeben, als das System in
Kreise übertragen ward, welche seinen Consequenzen, seinem ekstatischen
Drange, seinen Wunderwirkungen nicht überall zu folgen gewillt waren.
Hier heben die Umwandlungen an, welche sich durch nationelle Einflüsse
ergaben. In verschiedener Weise strebte man dahin, die Uebermacht
seines Höhendranges zu beruhigteren Wirkungen umzubilden; es werden
im Folgenden Leistungen zu verzeichnen sein, welche auch in diesem
Betracht als höchst anerkennungswürdige dastehen. Aber wie Bedeuten-
des in solchen Leistungen erreicht sein mochte, ein Bruch der Consequenz,
somit des Kernes des Systems, war hiemit jedenfalls gegeben, ein Aus-
einandergehen seiner Elemente vorbereitet. Man erstrebte eine schlich-
tere Gesammtwirkung und überliess die treibende Kraft, welche doch in
der Gesammtcomposition gegeben war, einer willkürlichen Bethätigung,
einem launenhaft bunten Spiele. Man löste die Strenge des ursprüng-
lichen organischen Zusammenhanges, so dass auch das bildnerische Ver-
mögen sich in selbständigerer Kraft entwickeln konnte; aber die Festig-
keit des Systems ward hiedurch nur in erhöhtem Maasse erschüttert.

Die Werke aus der Spätzeit des gothischen Styles sind dem ursprüng-
lich Erstrebten oft schon in erheblichem Maasse entfremdet. Zumeist
nur das Dekorative, und dieses allerdings nicht selten in üppigster Ent-
faltung, hält noch spielend an den kunstreichen Combinationen der frühe-
ren Zeit fest. Die architektonische Räumlichkeit, im nüchternen Gefüge
der überlieferten Formen, erscheint zumeist ernst in sich beschlossen, die
bildende Kunst zumeist in gemüthvoller Sammlung, mit strebsamer Sorge
den Erscheinungen des Lebens zugewandt, mehrfach auch aufs Heue von
dem alten phantastischen Hauche erfüllt. Innerhalb der überlieferten
Richtung der Kunst regt sich das Bedürfniss nach einer grundsätzlichen
Neugestaltung; den Anst'oss zu dieser giebt die erneute Wendung zu den
Mustern des klassischen Alterthums und ihrem künstlerischen Gehalt.
Italien, namentlich die toskanische Kunst, beginnt hiemit bereits in der
Frühzeit des 15. Jahrhunderts, die übrigen Lande folgen etwa um ein
Jahrhundert später. Es ist die Richtung der ..Renaissance“, die in sol-
cher Weise, die moderne Kunst begründend, an die Stelle des gothischen
Styles tritt. Im Einzelnen bilden sich mannigfache Uebergangserscheinun-
gen zwischen beiden. Eine längere Andauer der Gothik, tiefer in die
Epoche der modernen Kunst hinab, findet nur in seltenen Ausnahmfällen statt.

Erste Periode.

Der Ursprung der Kunst des gothischen Styles, ihre erste feste Aus-
prägung, ihre erste Entfaltung in zahlreichen, grossen und glanzvollen
Monumenten, gehört dem nordöstlichen Frankreich an. Es sind
die Lande der königlichen Domainen, die des Kronbesitzes des französi-
schen Herrscherhauses, die sich als solche der vollsten Begünstigung er-
freuten und in denen sich die Lebenselemente vereinigten, zu deren ge-
meinsamem Ausdruck der gothische Styl sich entwickeln sollte. Hier
 
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