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Kugler, Franz; Lübke, Wilhelm [Editor]
Handbuch der Kunstgeschichte — Stuttgart, Band 2.1861

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https://doi.org/10.11588/diglit.27233#0029
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B. DIE KUNST DES GOTHISCHEN STILES.

Allgemeiner Charakter.

Aus der Fülle der Erscheinungen, welche das Wesen der romanischen
Schlussperiode bezeichnen, löst sich als ein besonderer Zweig die Kunst
des" gothischen Styles ab. Die Anfänge dieses Styles stehen mit den letz-
ten Aeusserungen des Romanismus noch auf gleicher Stufe; aber sie füh-
ren zu einer Umgestaltung der gesummten Kunst des Abendlandes. An
die Stelle der volkstümlichen Naivetät, des phantastischen Behagens, des
Strebens nach klassischer Läuterung, womit bis dahin die traditionelle
Kunstform behandelt war, tritt nunmehr ein neues Gesetz. Ein gemein-
samer geistiger Drang macht sich geltend, welcher die Kunstschöpfungen
lebhafter durchdringt, sie reicher gliedert, fester zusammenbindet; ein
schwärmerisches, mystisches, ekstatisches Element, welches der Form und
Darstellung einen neuen Gehalt, ihrer Fassung und Behandlung, ihrer
Verbindung, ihrer Wirkung ein charakteristisch neues Gepräge giebt;
eine Entwickelung von nachhaltiger Folgerichtigkeit, eine Totalität der
Conceptionen, welche das Einzelne überall aus den Bedingnissen des
Ganzen hervorgehen lässt und in deren Bann erhält.

Es ist schon (1, S. 492 u. f.) bemerkt, dass in der Gotliik das Uni-
verselle des mittelalterlichen Geistes, im Gegensatz gegen die volksthüm-
lichen Besonderheiten, zur künstlerischen Gestalt gelangt. Es sind die
grossen geistigen Bewegungen der Zeit, die sich hierin offenbaren, die
grossen historischen Erscheinungen, mit denen der Beginn und die Aus-
bildung der Gothik in naher AVechsel Wirkung stehen. Die Macht der
Hierarchie, die die abendländische Welt zur geistigen Einheit verband,
feierte damals ihre Triumphe; sie setzte sich gleichzeitig mit den Massen
der Bevölkerung in ein unmittelbares Einvernehmen. Die kirchliche AVis-
senschaft fand auf den Universitäten die lebhafteste Pflege; die Sendboten
des obersten päpstlichen Willens, die neugestifteten geistlichen Bettelor-
den, fanden in allen Schichten der Völker Zugang, während die Versuche
einer selbständigen Gestaltung des geistigen Lebens durch Ketzergerichte
blutig unterdrückt wurden. Das aufblühende städtische Bürgerthum folgte
bereitwillig den von der geistigen Macht gegebenen Impulsen, mit den

Kugler, Handbuch der Kunstgeschichte. II. i
 
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