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Bayerischer Kunstgewerbe-Verein [Hrsg.]
Kunst und Handwerk: Zeitschrift für Kunstgewerbe und Kunsthandwerk seit 1851 — 72.1922

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Roth, Eugen: Das Ausstellungsjahr 1922: die Lebensäusserung eines besiegten Volkes
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https://doi.org/10.11588/diglit.8623#0045
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so viel Gekünsteltem macht sich die Sehnsucht nach
dem Gewachsenen, Organischen deutlich bemerkbar.
Neue Formen wurden geschaffen, nicht selten unter
einem gewissen Einfluß östlicher Kultur, der ja über*
haupt häufig zu Tage tritt. Daneben wendet man aber
auch dem bisherigen Möbel seine Aufmerksamkeit zu,
löst da und dort seine starren, durch endlose Wieder*
holung wirr gewordenen Linien auf und sucht das
Typische, sozusagen die Seele eines Stuhles, eines
Tisches oder Schrankes zu finden. Man befreite das
Möbel von der allzu sehr betonten Zweckhaftigkeit
und gab ihm, bei aller Wahrung praktischer Verwen*
dungsmöglidikeit, seinen eigenen Wert zurück. Ohne
unter dem Zwange der Notwendigkeiten künstlerische
Gesichtspunkte fallen zu lassen, bemühte man sich
gleichzeitig um eine Anpassung an die moderne Häus*
lichkeit, die vor allem in der Mietwohnung ihren Aus*
druck gefunden hat. Auch diese Einstellung, die auf
große Zusammenwirkungen von Architektur und
Innenraumkunst verzichten muß, ließ den Wunsch nach
dem Eigenleben der einzelnen Ausstattungsstücke
lebendig werden.

Hier haben dieVereinigten und dieDeutschenWerk*
Stätten wertvolle Pionierarbeit geleistet. Heute ist ihr
Streben längst Gemeingut aller führenden Fabriken
und auch der kleineren Meister geworden. Auf der
Gewerbeschau muß man freilich den Deutschen Werk*
Stätten den Vorrang lassen.Was sie in ein-paarRäumen,
die ganz von ihrer Arbeit und ihrem Geiste erfüllt
sind, bieten, ist mustergiltig.

In einer weiteren Abteilung sieht man einzelneMöbel,
oft genugeinen Meister nurmit einer Arbeit vertreten,
in die er dafür sein ganzes Können, seine ganze Liebe
gelegt hat- Daneben freilich auch große Häuser wie
M. Ballin, München, Anton Pössenbacher, München
und andere. Modern bemalte und Bauernmöbel zeigt
die Münchener Wohnungskunst G.m.b.H. Aus der
Fülle der Aussteller wären etwa nodi zu erwähnen
Flatow und Priemer, Berlin, die Kunstgewerbeschulen
Nürnberg und Dresden, die Werkstätten von S.Kam*
mermeier, München, vor allem auch die Münchener
Möbel* und Raumkunst Rosipalhaus, die, wenn auch
nicht immer auf voller Höhe, sich doch manche Ver-
dienste um die bescheidenere Wohnkultur erworben
hat. Daneben zeichnen sich ein paar Augsburger und
schwäbische Firmen <AugsburgerWerkstätten, August
Riedinger A. G, W. Stetter, Augsburg, Gebrüder
Botzenhardt,Kempten, dieWolf* Werkstätten in Krum*
bach> durch teilweise sehr anerkennenswerte Leistun*
genaus.Bodenbelag,Tapeten,Möbelstoffeund Wand*
Verkleidungen, die von den verschiedensten Fabriken
gezeigt werden, werben nicht nur für sich selber, sie

bilden auch für die aufgestellten Gegenstände eine
wirkungsvolle Umrahmung.

Hat man so in den Halle selbst Gelegenheit, sich
die Einrichtung für seine Wohnung bis aufs kleinste
auszusuchen, so findet man hinten im Südpark der
Ausstellung — leider auch nur zur Besichtigung —
die entzückendsten Siedelungshäuser fast durchweg
bayerischer Genossenschaften.

Was so ein Haus im Frieden gekostet hat, zahlt
man heute für ein Paar Stiefel. Und so ist auch die
Modeschau für viele Besucher nur mehr ein träum*
volles Wandeln zwischen Herrlichkeiten geworden, die
zu besitzen dem gewöhnlichen Sterblichen verwehrt ist.
Aber gleichwohl wird man nicht minder sachlich urteilen
und mit Freude den starken Einfluß desKunstgewerb*
liehen feststellen, der mehr und mehr, besonders im
Strickkleid, im Zierat jeder Art, in der Batik und Sticke*
rei sich sein Anrecht an die Mode gesichert hat.

Ein Gebiet, das früher fast ausschließlich zwischen
volkstümlicher Heimarbeit und großzügigen Massen*
betrieben aufgeteilt war, ist gleichfalls vom Künstler
und Kunstgewerbler erobert worden: das Spielzeug.
Davon und von der begeisternden Wirkung, die von
diesen gesdimadcvollen und witzigen Dingen ausgeht,
kann man sich überzeugen, wenn man die stets über*
füllte und vom Jubel der kleinen und großen Kinder
durchschwirrte Abteilung für Spielwaren durdi wandert,
wo besonders die Künstlerpuppen von Margarete
Steiff in ihrer entzückenden Zusammenstellung herz*
liehe Freude auslösen. Bemerkenswert ist auch hier
das Überwiegen der bayerischen und süddeutschen Er*
zeuger. Auch die Wachszieher und Lebzelter sollen
hier nicht vergessen sein, die vielfach in Anlehnung an
alte Volkskunst durchaus Erfreuliches leisten.

Man kann wohl sagen, daß heute das ganze Ge-
werbe so durchtränkt und durchdrungen ist von künst*
lerischem Geschmack und künstlerischer Verantwor*
tung, daß es fast durchweg irgendwie zum Kunstge*
werbe geworden ist. Freilich versteht man unter diesem
Begriff im engeren Sinne die gefällige und wertvolle
Verbindung der Kunst* und der Zweckform. Und
selbst dieses rein Kunstgewerbliche überwiegt in man*
chen Abteilungen, sei es wie in der Holzschnitzerei
mehr in Anlehnung an bayerische Heimatkunst, sei
es, wie beim Metall, mehr unter Hinneigung zum
Zweckhaften. Dort sind es dann auch die Fachschulen
wie Oberammergau, Zwiesel, München, Warmbrunn
und Villach in Kärnten, von denen die besten An*
regungen ausgehen, hier neben solchen Fachschulen
die großen Werke und Betriebe, die sich einen Stamm
von künstlerischen Mitarbeitern herangebildet haben
und zu erhalten suchen. Eine Reihe von Münchener

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