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Bayerischer Kunstgewerbe-Verein [Hrsg.]
Kunst und Handwerk: Zeitschrift für Kunstgewerbe und Kunsthandwerk seit 1851 — 78.1928

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Moser, Ludwig: Historisches Kunstgewerbe und modernes Kunstbewußtsein
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https://doi.org/10.11588/diglit.7095#0121
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Historisches Kunstgewerbe und
Modernes kunstbewusstsein

V0N DR. LUDWIG MOSER, KARLSRUHE

Goethe hat einmal gemeint, die Gefchichte
M>e eigentlich nur Sinn, wo fie im Menfchen
^en Enthufiasmus errege. Er fprach fo als Sohn
^es aufgeklarten und revolutionären acht-
2ehnten Jahrhunderts, außerdem als Künftler,
^en im Verlauf feines Schaffens mehr als ein-
mal der Alpdruck der Tradition gequält hat
von feiner Abneigung gegen das Politifche
S^nz zu fchweigen. Doch die Gefchichte rächte
fich witzig, wie fie hin und wieder zu tun
Pflegt. Dem nach Italien Entronnenen, die
^ordifchen Ängfte, Sehnfüchte, Formalismen
fliehenden machte fie fich in der Maske füd-
^ rationaler „Naturhaftigkeit" doppelt
^ienftbar; als Klaffizift, als Verehrer Helenas,
ewigen, obgleich vor Jahrhunderten end-
gültig verfunkenen Schönheit Griechenlands
^ehrte Fauft nach Deutschland zurück.

Unfer Beifpiel zeigt, wie wenig felbft bei
§roßen Geiftern Urfprünglichkeit allein lei-
^et, und daß der Bindung einerTradition ent-
tlnnen, oft nur die mit einer anderen (wenn
4Uch irgendwie gemäßeren) eingehen heißt.

^Vo nunTraditionengewahrtwerden.gibt
es Mufeen; iie hat es immer und überall ge-
lben, wenn auch nicht in der wiffenfdiaft-

en oder kulturpädagogifchen Form der
^genwart.Tempel- und Kirchenfchätze ftel-
^11 ihre Urform dar, Häuptlings- und Fürften-
eutz eine andere - falls man nicht bis zu der
vom religiös-magifchen Zweck beherrfchten
Gewohnheit des Südfeehelden zurückgreifen
lieh eine Schädelfammlung anzulegen.
. Uch in diefem Fall können die Geifter der
°ten für den, der Tie nicht zu behandeln

weiß, gelegentlich fehr unangenehm werden.

Und das pflegt ja den Mufeen wie ihren
Befuchern zuweilen zu paffieren. Ein Künftler
müht fich, rückfichtslos modern zu fein. »Vor
iooo Jahren fchon dagewefen« antwortet das
Mufeum. Damals ging die Sache fo und fo
aus. Oder fchlimmer, die ganze Maffe der
aufgefpeicherten »hiftorifchen Werte« rückt
gleichfam in Phalanx gegen den Lebenden
vor, und jeder Spießbürger erklärt ihm: »Hier,
mein Befter, nimm Dir ein Beifpiel; die da
haben ganz andere Dinge gekonnt als Du!«

Der Wutfchrei als Echo auf diefe Phrafe
ift eine berechtigte verzeihliche Erfcheinung.

Dennoch ift der Glaube des modernen
Künftlers, des modernen Menfchen, er fei
ganz er felbft, nur »gegenwärtig« und danke
höchftens diefer Zeit und Umgebung, in der
er lebt, die entfeheidenden Ideen, dennoch
ift diefer Glaube ein Trugbild und die mit
ihm verbundene Abneigung gegen das Ge-
fdiichtliche eine Schwäche, weil Tie aus dem
Reffentiment kommt — möge diefes Reffen-
timent noch fo begreiflich und verzeihlich fein.

Nicht nur das hiftoriziftifche 19. Jahrhun-
dert, auch ältere Zeiten kennen die rückläu-
fige Bewegung in der Kunft. Karolingifdie,
ottonifche, füditalifdi-ftaufifche Renaiffance
findTatfachen derKulturgefdiichte, lange vor
dem Cinquecento, und es braucht nur ver-
wiefen werden auf die tiefgreifende Orien-
talilierung der fpätantiken Kultur, in deren
Verlauf ja unter vielem anderem auch Alt-
ägypten große Mode war.

Trotzdem ging die Kunft nicht unter und

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