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Kuhrmann, Dieter
Über das Verhältnis von Vorzeichnung und ausgeführtem Werk bei Albrecht Dürer — Berlin, 1964

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https://doi.org/10.11588/diglit.57083#0034
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der berührenden Gewandfalten beider Frauen mittelbar bis an den unte-
ren Bildrand geleitet wird. Nach oben setzt sich diese Senkrechte in der
dunklen Tannenspitze zwischen den Köpfen von Maria und Elisabeth fort,
dem hellen Laubbaum darüber - in diesem Baum dürfte eine Reminis-
zenz an den Heimsuchungs-Holzschnitt aus dem Ritter vom Turn vor-
liegen (46) - und weiterhin über die linke Spitze des Felsmassives hin-
weg in der kleinen Wolke, die gerade an der Stelle unter dem hellen
Teil der großen Wolke schwebt, wo dieser sich am höchsten auftürmt.
Nur gelangt diese Achse nicht zu gleicher optischer Wirksamkeit wie
die Achse der rechten Bildbahn, weil sie nicht mit der Mittelachse
des Felsmassivs zusammenfällt, die Beziehbarkeit des Felsmassivs
auf die Heimsuchungsgruppe aber von zwingender Bildkraft ist und außer-
dem noch der Diagonalverband Burgberg-Felsmassiv optisch ins Ge-
wicht fällt.
Die aufgezeigte Vertikalachse ist nicht etwa mit der Mittelsenkrechten
des Bildfeldes identisch, sondern dieser gegenüber etwas nach rechts
verschoben.
Wie in der Gesamtanlage, so drückt sich auch in manchen Einzelheiten
Dürers Neigung zum Vertikalismus aus. In der Baumgruppe am rech-
ten Bildrand nimmt die Zahl senkrechter Linien infolge der Zufügung
eines weiteren Baumstammes und der Aufspaltung sämtlicher Stämme
erheblich zu. Bezeichnend ja auch die Ersetzung des Laubbaumes durch
die Tanne; überdies ragt die Tanne wesentlich höher auf als vorher der
Laubbaum. Die Burg liegt nicht mehr an breitem Berghang, sondern
erhebt sich vieltürmig auf steil ansteigendem Fels. Der jenseits der
Tür gelegene Teil der Sockelbank wird auf dieselbe Höhe gebracht wie
der vordere Teil. Da er aber um die Hälfte schmaler ist als der vorde-
re Abschnitt (47), steigert sich der Eindruck seines Höherwerdens ge-
genüber W. 293 noch. Davon abgesehen steigen die Linien der Sockel-
bank im Holzschnitt sowieso steiler als im Entwurf an, weil der Flucht-
punkt jetzt höher liegt.
Den Fluchtpunkt auf der Zeichnung zu fixieren, bereitet allerdings
Schwierigkeiten, weil dort für den vorderen Teil der Sockelbank ein
höherer Fluchtpunkt gültig ist als für den hinteren Teil. Der links ober-
halb des Hintergrundshauses nachträglich eingezeichnete Punkt ist je-
denfalls nicht maßgebend. Hält man sich an die Bodenlinie der Sockel-
bank, die für beide Abschnitte gemeinsam durchgezogen ist, so kommt
man in Verbindung mit den Profillinien der Kehle zwischen Unter- und
Obergeschoß zu einem Augenpunkt, der auf dem Rücken Elisabeths liegt.
Im Holzschnitt befindet er sich dagegen am Hinterkopf Elisabeths, d. h.
in Augenhöhe der Hauptfiguren.
Die Verschiebung des Fluchtpunktes gehört in einen Zusammenhang mit
Änderungen, die in der Organisation des Bildraumes vorgenommen wor-
den sind.
In der Skizze umgab Maria und Elisabeth ein relativ freier Raum nach
vorn und zum Hause hin, aber auch nach hinten, weil eine durchgehende
Blickbahn Vorder- und Hintergrund erschloß. Ungehindert konnte der
Blick des Betrachters vorn einsetzen und an der Sockelbank entlang in
die Tiefe gleiten. Der niedrige Zaun und das Gebüsch dahinter boten ihm
 
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