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2Y 72

Kunstblatt.

Donnerstag, den 9. September 1841.

Heber malerische Schaubarkeit.

Von L. Bübrlen.

Einer meiner Jugendfreunde, seit zwei Jahren todr,
stellte einst in einer Debatte mit mir und einem Künstler
die lakonische Behauptung auf: Zeichnen können heißt:
recht sehen!

Ich glaubte diesen Satz um so mehr anfechtcn zu
müssen, alö er mir ans der Seele genommen war. Ich
fühlte nämlich eine Art Eifersucht, daß er, der in der
Natur und Kunstwelt so wenig sah, dennoch so wohl-
feilen Kaufs zu einer Weisheit kommen sollte, die ich
mir auf dem Wege der Beobachtung und Forschung er-
rungen zu haben glaubte.

Mein Freund lebte nämlich viel in öffentlicher Ge-
sellschaft, das heißt in Gasthöfen. Auf den Bergen sah
man ihn niemals; von Sonnen-Auf- und Untergängen
nahm er wenig Notiz. Gemälde sah er herzlich wenige,
und wenn er einmal ein irgend ausgestelltes, weil cs
Gegenstand der geselligen Unterhaltung werden konnte,
in Augenschein nahm, so entdeckte er bestimmt die Fehler,
vermeintliche oder wirkliche, zuerst daran, ohne die Vor-
züge anzuerkennen. Er rächte sich für sein Nichtleben
in der Kunst durch eine scharfe Kritik der Kunstwerke,
die meist zur Ungerechtigkeit wurde. Aber er hatte oft
gesunde Einfälle, sarkastischen Witz; die Lücken seines
Wissens füllte er mit kühnen Sprüngen aus; seine Rede
hatte einen socialen Zweck; er machte, ohne cs zu wollen,
von allen rhetorischen Künsten, von allen Tropen rc.
Gebrauch. Ausgeschrieben hatte er vom Eigenen fast
nichts; ein Setzer hätte ihm in die Wirthshauscr nach-
setzcu müssen, um Sätze und Satz zu erhalten.

Eine paradore Behauptung zu motiviren, zu limi-
tiren, kam ihm gar nie in den Sinn, sich gefangen geben,
noch weniger. „Concedo!" habe ich ihn niemals sagen
hören, auch wo er vollständig verloren hatte.

So war mein nun todtcr Freund im Leben. Dennoch

ging mir sein Satz: „Zeichnen können heißt: recht sehen,"
immer nach.

Wollte ich erläuternd beifügen, daß das klarste
Sehen noch kein Handgeschick gebe, so wandte er ein,
daß Anlage, Neigung, Lust, Trieb vorausgesetzt werden,
wenn vom Zeichnen die Rede seyn soll. Das Festhalten
im inner» Sinn rechnete er auch zum „recht sehen,"
und wenn ich ihn damit zu fangen glaubte, daß ich
beibrachte, wie einestheils das unendliche Gethcil des
Festen, z. B. der Vegetation, des Gesteins, der Haare rc.
— des Flüssigen, z. V. der Wogen und Wellen, der
Wolken rc. — andernthcils das unendliche Verschweben
der Ucbergänge des Runden, der Beleuchtung, der zar-
testen Umrisse rc. gar keine vom Griffel festzuhaltende
Objecte seyen, daß also zu dem „recht sehen" doch noch
eine besondere Manipulation, ein.Schrafsiren, ein Geben
und Nehmen, ein Suchen kurzer Ausdrücke für das
unerschöpflich Mannigfaltige hinzukommen müsse, so
fertigte er mich barsch damit ab, daß er vom Künstler,
auch dem angehenden, ein künstlerisches „recht sehen"
fordere.

Dieser Streit, bei welchem ich, wie so oft in ähn-
lichen Fällen, die Mühe hatte, meinen rabulistischen
Freund im Geist zu verstehen und die Sache mit mir
selbst erst in's Reine zu bringen, war für mich doch
von Frucht, weil er mich über das malerische Anschaucn
Nachdenken und dieses allseitig erwägen ließ.

Ich ging analytisch zu Werk und fand mich so
immer mehr auf's Allgemeine getrieben, von welchem
aus ich dann bis znm Einzelnsten, Kleinsten Herabstieg.

.Nicht jeder Denker, Kunstfreund, Künstler mag lich von
solchen Gesetzmäßigkeiten selbst Rechenschaft geben. Die
Einen genießen ohne Spekulation, die Andern schaffen
ohne Neflerion; beide Theile lassen aber doch wohl Ge-
dachtes an sich kommen, wenn cs ohne die Schulsprache
auf faßliche heitere Weise geschieht.

Hiezu wollen wir sie nun freundlich eingeladen haben.
- Wir sagen: „Ich sehe den Mond; der Mond
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