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Kunstgeschichtliche Gesellschaft zu Berlin [Hrsg.]
Kunstchronik und Kunstmarkt: Wochenschrift für Kenner und Sammler — 59.1925 (April-September)

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Steinmann, Ernst: Michelangelo (1475-1925)
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Michelangelo (1475—1925)

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Und das Leben dieses Mannes? Es wird wohl in seiner Größe und Tragik
ewig unerschöpflich bleiben. Denn wenn wir auch über keinen der Meister
der Renaissance so viele persönliche Dokumente besitzen wie über Michel-
angelo, wenn er auch in seinen Dichtungen sein Herz erschlossen zu haben
scheint, immer fühlen wir, daß sich das Innerste seines Wesens vor unsern
forschenden Blicken verschleiert, immer scheint er sich denen, die sein Leben,
seine Kunst und seinen Charakter zu schildern versuchen, mit dem herben
Wort entgegenzustellen: „Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir.“
Und doch ist dieser Mensch mit seinem Widerspruch dem modernen
Geist verwandter als irgendein anderer unter den großen Meistern der Re-
naissance. Es ist nicht nur die einzigartige Verbindung eines fast unbegrenzten
künstlerischen Vermögens mit einer ebenso abgründigen Tiefe des Denkens
und Empfindens, das uns so ganz in den Bann dieses Genius zieht. Es ist
vor allem auch das beklemmende Schauspiel eines Menschen, dem die Natur
alles gab und dem das Schicksal alles versagte, was eben dieser Mensch brauchte,
um glücklich zu sein. So klingen fast alle Harmonien im Leben Michelangelos
schrill und schrecklich in Disharmonien aus: „Quel che muore, chetar disier
non puö“. Das was stirbt vermag die Sehnsucht nicht zu stillen, bekannte
er endlich selbst. Aber was hat es ihm gekostet, um zu dieser Erkenntnis
zu gelangen!
Warum hat gerade der deutsche Geist die Größe Michelangelos so ahnungs-
voll nachempfunden? Schon am 4. Januar 1557 schrieb Pier Vettori an Vin-
cenco Borghini von1 einem Besuch deutscher Romfahrer in Michelangelos
armseligem Heim am Macel de’Corvi: „Diese deutschen Edelleute — wüßten
wir doch ihre Namen! —- waren nur nach Rom gekommen, um Michelangelo
zu sehen. Ich führte sie ein, er empfing sie liebevoll, und die gingen hoch-
befriedigt von dannen.“
„Llalten Sie Michelangelo für einen Narren“, fuhr der alte Goethe den
Franzosen Soret an, als es dieser gewagt hatte, an dem Moses von S. Pietro
in Vincoli Kritik zu üben, dessen Arme er zu lang fand. „Mußte er nicht
die zehn Tafeln des Gesetzes tragen? Hätte er mit den gewöhnlichen Armen
das widerspenstige Volk der Juden in der eisernen Umklammerung halten
können, wie er es getan hat?“
Ilerman Grimm hat einmal einen Aufsatz „Raffaels Ruhm in vier Jahr-
hunderten“ geschrieben. Besäßen wir eine gleiche Arbeit über Michelangelo,
so würden wir mit Erstaunen sehen, wie unablässig dieser Genius den Geist
der Deutschen beschäftigt hat, wie selbst ein Winckelmann in Liebe oder Haß
immer wieder zu Michelangelo zurückgekehrt ist.
Und was in früheren Jahrhunderten sich vor allem in ahnungsvoller
Bewunderung ausdrückte, das hat sich in den letzten Jahrzehnten zu exakter
 
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