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Kunstgeschichtliche Gesellschaft zu Berlin [Hrsg.]
Kunstchronik und Kunstmarkt: Wochenschrift für Kenner und Sammler — 59.1925 (April-September)

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Tietze, Hans: Die Reaktion in der Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.41231#0029

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Die Reaktion in der Kunst

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letzten Picasso, Togores, Coubine, Dix, Schrimpf, Mense, Kremlicka, Casorati,
Merkl, der russischen Konkretivisten ist evident. Sie stützen sich auf Tra-
dition verschiedener Art — einmal heißt sie Giotto, einmal Poussin und
einmal altrussische Ikonenkunst —, immer aber ist es die gleiche müde Ab-
geklärtheit; die Einfalt um jeden Preis, die an den Haaren herangezogene
Naivität. Es steckt meist ungeheuer viel Erfahrung hinter dieser mönchischen
Schlichtheit, und jenes treffende Wort, das Solger einst über Ludwig Tiecks
Katholizismus gesagt hat: es sei nicht eigentlich Frömmigkeit, sondern
Sehnsucht nach dieser Frömmigkeit, hat auch bei diesen Künstlern Geltung.
Sie sind Roues, die sich für eine gute Ehe zurechtgemacht haben; nicht
ganz so unschuldig, wie sie sich gehaben und wie sie vielleicht sein möchten.
Eine gleiche Müdigkeit hat sich der Genießenden bemächtigt. Sie sind
der nervenaufpeitschenden Sensation satt und sehnen sich auch in der Kunst
nach Ruhe. Gerade die am stärksten an die Kraft der neuen Bewegung
geglaubt haben, stehen heute am verdrossensten beiseite; daß ihre hoch-
gespannten Erwartungen nicht ganz erfüllt worden sind, macht sie gegen
die Kunst überhaupt mißtrauisch. Enttäuschte Fanatiker sind am unver-
söhnlichsten. Eine Wolke von Katzenjammer liegt über der Tagesliteratur
über moderne Kunst. Wohin treiben wir, wohin sind wir getrieben? Die
Krise des Expressionismus macht Miene, sich zu einer Bankrotterklärung der
Kunst überhaupt auszuwachsen.
Diese Kunstmüdigkeit verschärft sich an der Krise der Weltwirtschaft.
Die Produktion von Kunstwerken ist in einem Male gewachsen, das keines-
wegs einem dahinterstehenden unmittelbaren Bedürfnis entsprach, sondern
vielfach ein recht künstliches Erzeugnis gewesen war; die Loslösung der Kunst
von ihren sozialen Unterlagen zeigte sich hier wie anderwärts verhängnisvoll.
Kunstwerke waren sonst aus ganz bestimmten Notwendigkeiten entstanden;
sie dienten der persönlichen Andacht und repräsentativer Frömmigkeit, dem
Schmuckbedürfnis von Fürsten und sozial und wirtschaftlich maßgebenden
Schichten, fest umrissenen traditionellen Zwecken. Im Laufe des neunzehnten
Jahrhunderts haben sich diese Zusammenhänge immer mehr gelockert; die
meisten Kunstwerke wurden erworben, weil dies bei einer gewissen wirt-
schaftlichen und sozialen Position zum guten Ton gehörte, der größte Teil
des Verbrauchs von Kunst vollzog sich auf der schütteren Basis öffentlicher
und privater Sammeltätigkeit. Das plötzliche Nachlassen der Aufnahmefähig-
keit des Marktes wirkt jetzt katastrophal auf die Produktion, die das Stigma
des Überflüssigen, Unwillkommenen erhält. Dieser Verbraucherstreik trifft na-
turgemäß die sogenannten modernen Richtungen am härtesten; mit der wirt-
schaftlichen erscheint ihre moralische Existenzberechtigung untergraben.
Wieder einmal klagt und weint Kunst sehr; ihrer begehrt nun niemand mehr!
Nr. 1. 3. IV. 25
 
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