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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 6.1895

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Lessing, Julius: Neue Wege
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https://doi.org/10.11588/diglit.4566#0011

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NEUE WEGE.

Stelle geziemend; die Maschine stellt es billig in
Masse her und klebt es an Tausende von Stücken
ohne Sinn und Wahl. So schafft man etwas schein-
bar Reiches, aber innerlich und äußerlich Unbrauch-
bares. Ob diese Schnörkel nun mehr nach Renais-
sance oder Rokoko schmecken, ist ziemlich gleich-
gültig; die Krankheit liegt im Prinzip.

Man hat gegen das verständnislose Weiter-
schleppen des historisch überlieferten Ornaments
das Naturstadium als Schutz angerufen. Gewiss mit
gutem Recht; es kann hinführen zum organischen
Verständnis der Formen, kann den Sinn beleben
und erfrischen. Aber dieses Studium erfüllt doch
nur einen kleinen Teil der Aufgabe. Die Geräte
können für ihre Gestalt aus der Natur Aualogieen
entnehmen, aber ihre eigentlichen Formen erhalten
sie aus der Zweckbestimmung, aus dem Material und
aus der Technik.

Ist es nun denkbar, dass an Stelle historischer
Überlieferung und allmählicher Weiterbildung diese
technischen Faktoren durchaus neue Formen schaffen ?
Können wir die neu gefundene, rein konstruktive
Form eines modernen eisernen Trägers als eine
Schöpfung betrachten wie die griechische Säule,
deren geheiligte Form bis heute alle Kunstperioden
beherrscht?

Ganz gewiss könneu wir es und wir müssen es.

Auch die altgriechische Säule ist in ihrem
Kerne ein Ergebnis konstruktiver Berechnung von
Last und Stütze, Tragfähigkeit und Spannfähigkeit
des Steinmaterials. Ihre Höhen und Abstände, die
wir als Schönheitsregeln empfinden, beruhen auf
technischen Beschränkungen. Die Gotik schafft ein
neues Konstruktionsprinzip mit gespannten Spitz-
bogen, und die Säule verschwindet. Was kann der
Eisenkonstrukteur unserer Tage mit der Säulen-
architektur anfangen? Er kann sie als prachtvolle
Coulisse, als Gelegenheitsschmuck vor seine Hallen
kleben, wie an den Ausstellungspalästen von Chicago,
aber in den lebendigen Kern des Eisenbaus führt
er sie nicht mehr hinein. Man sehe, wie in unseren
Bahnhofshallen, wie in den Ausstellungsbauten von
Paris, den Kunstpalästen von 1889, die Eisenkon-
struktion ein völlig selbständig künstlerisches Leben .
gewonnen hat!

Dieselbe Bewegung nach neuen Idealen hin ist
schon auf anderen Gebieten, bei denen gleichfalls
die Konstruktion vorherrscht, zum vollständigen
Siege gelangt. Die Schönheit eines Schiffes bestand
früher in dem Schmuck der Schnitzerei, der Ver-
goldung; heute empfinden wir die rein konstruktive

Linie des forellengleichen Kahnes als eine Schön-
heit, welche ein aufgesetztes Ornament nur trüben
würde. Ebenso verhält sich der moderne, federnde,
glattlackirte AVagen zur alten bemalten Staats-
karosse. Hier ist durch die Konstruktion die Vor-
stellung von der Schönheit in ihrem tiefsten Kerne
umgemodelt. Auf anderen Gebieten geschieht das-
selbe durch die Arbeitsmaschinen. Wir vermögen
jetzt den Granit in großen Blöcken zu schleifen
und gelangen mit diesen schweren, durch ihren Glanz
wirkenden Flächen zu völlig neuen Formen. Man
sehe die Bankhäuser in der City von London.

Nun bringt uns aber auf jedem Gebiete des
häuslichen Lebens das Zeitalter der Naturwissen-
schaften neues Material, neue Technik und neue
Bedürfnisse.

Fünftausend Jahre saß die Menschheit bei der
Öllampe mit freiliegendem Docht. Jetzt erfindet jedes
Jahr neue Brenner und Cylinder, und über das Ol
hinweg schreiten in schnellem Siegesmarsch das
Petroleum, das Gas, die elektrische Bogenlampe,
das Glühlicht. Die Hausthüre gehorcht dem leisen
Griff, der Klingelruf durch das ganze Haus der
Fingerspitze.

Und das alles sollte vor sich gehen, ohne dass
die Kunstformen sich verändern? Undenkbar! Dann
wären die Kunstformen eine äußerliche Spielerei und
keine sittliche Notwendigkeit; dann könnte man sie
den Liebhab erkünsten und dem „Schmücke dein
Heim" überlassen; dann brauchen wir uns nicht zu
wundern, wenn unsere schöne Siegesparole „Kunst-
gewerbe" zu einem Spottworte wird, gleichbedeutend
mit thörichtem Kram.

Die Veränderung der Kunstformen geht aber
ebensowenig wie die der Sprachformen ruckweise
vor sich. Das Alte will zunächst den erbgesessenen
Platz nicht verlassen, das Neue muss sich erst als
lebensfähig bewähren. Es bedarf gewisser Ereig-
nisse, welche den Unterschied der Kräfte erweisen.
Die Merktage für das moderne Kunstgewerbe sind
die Weltausstellungen. 1851 bezeichnete London den
Beginn jener Bewegung, in welcher wir aufgewachsen
sind. Bis 1851 hatte in England die neu entstandene
Maschine lediglich verwüstend im Kunstbetriebe ge-
wirkt. Man hatte nichts Neues geschaffen, sondern
nur alles an Formen fallen lassen, was die Maschine
nicht ohne weiteres hergab; im Krystallpalast 1851
erkannte England seine Entblößung, und nun hieß
die Rettung: Rückkehr zu der Väter Werken. Ganz
Europa arbeitet nunmehr nach demselben Schema.
Jedes Volk rafft mit möglichst geringem Aufwände
 
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