NEUE WEGE.
von Arbeit die ererbten Formen zusammen und stutzt
sie für modernen Gebrauch leidlich zurecht; lediglich
England hat ernsthafte Versuche gemacht, der mo-
dernen Technik gerecht zu werden.
So lange es angeht, sich an das Alte zu klam-
mern, hat dasjenige Volk den Vorsprung, dessen
Kunstüberlieferung die reichste ist. Sobald aber ein
neues Formenprinzip einsetzt, kann die Überlieferung
zum Ballast werden, und das junge Volk, das voraus-
setzungslos schafft, hat den Vorsprung. Das ist die
Lehre von Chicago 1893. Goethe hat es vorahnend
gesehen, und immerfort klangen iii mir seine Worte:
Amerika, du hast es besser
Als unser Kontinent, der alte,
Hast keine verfallenen Scblösser
Und keine Basalte.
Dich stört nicht im Innern
Zu lebendiger Zeit
Unnützes Erinnern
Und vergeblicher Streit.
Benutzt die Gegenwart mit Glück
Und wenn nun eure Kinder dichten,
Bewahre sie ein gut Geschick
Vor Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten.
Die Jury von Chicago hat allerdings dem alten
Europa ihre ehrfurchtsvolle Verbeugung gemacht
und hat unsern Ornamentenschätzen die Medaillen
überreicht; aber wir, die wir mit dem guten Willen,
etwas zu lernen, herübergegangen sind, wir haben
die glatten Holzstühle und die aus Draht geschlunge-
nen elektrischen Kronen, die blanken Messinggriffe
und die verständig geschwungenen, gänzlich orna-
mentlosen Geräte als Wahrzeichen mit zurückge-
bracht. Hier haben wir Geräte, geschaffen in dem-
selben Geiste wie unsere Eisenbauten, unsere Schiffe
und Wagen; Geräte, die in ihren Formen voraus-
setzungslos aus Material und Technik entstanden
und so klar entwickelt sind, dass sie nicht mehr zum
rechnenden Verstände, sondern direkt zur Anschau-
ung sprechen und dem Auge die reine, gesättigte
Freude gewähren, die wir als Schönheit empfinden.
So hätten wir also das erlösende Stichwort? —
Nicht mehr Renaissance, nicht mehr Rokoko., son-
dern Amerika!
Ja und nein!
Wenn wir die Lehre nicht beherzigen wollten,
die uns Amerika giebt, so isoliren wir uns auf
unserer Ritterburg. Wollten wir dagegen jetzt
schlankweg in die Gefolgschaft von Amerika treten,
so begeben wir uns unnötiger Weise des ererbten
Besitzes, um den Amerika uns beneidet. Wenn wir
für Bildung der Formen Material und Technik —
das konstruktive Element, wie wir es kurzweg nennen
dürfen, in den Vordergrund stellen, so dürfen wir
doch nicht vergessen, dass bei der „Entstehung
der Arten" auch der Boden, auf dem die Keime
wachsen sollen, ein wichtiger Faktor ist. Ein Volk,
das im Schatten der Dome und im Sonnenglanz der
Paläste aufgewachsen ist, darf und muss andere An-
sprüche erheben, als die Kinder der Neuen Welt.
Die neuen konstruktiven Grundformen, die unsere
Zeit fordert, sind nicht das letzte Wort der Kunst-
sprache; sie geben Stamm und Astwerk, an dem
aber mancherlei Blüten treiben können. Auch
Amerika begnügt sich nicht mit seinen konstruktiven
Formen, sondern umkleidet sie in dekorativer Weise.
Als bequemstes Mittel bieten sich die Naturformen,
Blumen und Blätter, zumeist in der schlichten Stili-
sirung, wie sie Japan uns zeigt; oder man greift
auch unbedenklich zu den Ornamenten der alteu
Stilepochen, verwendet diese aber nicht mit histo-
rischer Treue, sondern als beliebige Zierform, welche
hier unter Umständen eine ganz neue Bedeutung
bekommt, gerade so wie in der jugendfrischen
Sprache eines ungelehrten Volkes ein Fremdwort
ohne Rücksicht auf Orthographie und Grammatik
mundgerecht und dadurch zum lebendigen Eigentum
gemacht wird.
Auf diesem Weg werden wir den Amerikanern
schwerlich folgen können, wir sind zu gut in der
Grammatik gedrillt, um nai'v mit dem alten Vorrat
zu spielen.
Aber wenn auch das Gepäck, welches uns das
Studium auf die Schultern legt, etwas lästig ist, so
ist es doch nicht unverwendbar. Wir werden nach
wie vor aus der Kenntnis der alten Kunst unsere
beste Lebenskraft ziehen können.
Die Vorstellung, dass die alte Kunst im Gegen-
satz zur modernen Konstruktion nur eine Fülle von
historisch geordneten Ornamenten herzugeben ver-
möge, ist grundverkehrt. Jede große Kunstperiode
ist in ihrer Weise konstruktiv, nur sind wir meist
zu träge bis zu dem konstruktiven Kerne vorzu-
dringen. Für die griechische Kunst ist dieses kon-
struktive Prinzip durch Böttchers Tektonik erwiesen.
Aber noch heute wird ein Zeichner, dem die Auf-
gabe zufällt, Tische und Stühle im griechischen Stile
zu erfinden, in den meisten Fällen die Füße wie
Säulen, die Leisten wie Gebälk behandeln. Nun
vergleiche man die auf den Vasenbildern erhaltenen
Formen der griechischen Stühle, Tische und Kästen!
Sie sind absolut frei von architektonischem Detail,
schlank, glatt und tischlergerecht wie nur irgend
von Arbeit die ererbten Formen zusammen und stutzt
sie für modernen Gebrauch leidlich zurecht; lediglich
England hat ernsthafte Versuche gemacht, der mo-
dernen Technik gerecht zu werden.
So lange es angeht, sich an das Alte zu klam-
mern, hat dasjenige Volk den Vorsprung, dessen
Kunstüberlieferung die reichste ist. Sobald aber ein
neues Formenprinzip einsetzt, kann die Überlieferung
zum Ballast werden, und das junge Volk, das voraus-
setzungslos schafft, hat den Vorsprung. Das ist die
Lehre von Chicago 1893. Goethe hat es vorahnend
gesehen, und immerfort klangen iii mir seine Worte:
Amerika, du hast es besser
Als unser Kontinent, der alte,
Hast keine verfallenen Scblösser
Und keine Basalte.
Dich stört nicht im Innern
Zu lebendiger Zeit
Unnützes Erinnern
Und vergeblicher Streit.
Benutzt die Gegenwart mit Glück
Und wenn nun eure Kinder dichten,
Bewahre sie ein gut Geschick
Vor Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten.
Die Jury von Chicago hat allerdings dem alten
Europa ihre ehrfurchtsvolle Verbeugung gemacht
und hat unsern Ornamentenschätzen die Medaillen
überreicht; aber wir, die wir mit dem guten Willen,
etwas zu lernen, herübergegangen sind, wir haben
die glatten Holzstühle und die aus Draht geschlunge-
nen elektrischen Kronen, die blanken Messinggriffe
und die verständig geschwungenen, gänzlich orna-
mentlosen Geräte als Wahrzeichen mit zurückge-
bracht. Hier haben wir Geräte, geschaffen in dem-
selben Geiste wie unsere Eisenbauten, unsere Schiffe
und Wagen; Geräte, die in ihren Formen voraus-
setzungslos aus Material und Technik entstanden
und so klar entwickelt sind, dass sie nicht mehr zum
rechnenden Verstände, sondern direkt zur Anschau-
ung sprechen und dem Auge die reine, gesättigte
Freude gewähren, die wir als Schönheit empfinden.
So hätten wir also das erlösende Stichwort? —
Nicht mehr Renaissance, nicht mehr Rokoko., son-
dern Amerika!
Ja und nein!
Wenn wir die Lehre nicht beherzigen wollten,
die uns Amerika giebt, so isoliren wir uns auf
unserer Ritterburg. Wollten wir dagegen jetzt
schlankweg in die Gefolgschaft von Amerika treten,
so begeben wir uns unnötiger Weise des ererbten
Besitzes, um den Amerika uns beneidet. Wenn wir
für Bildung der Formen Material und Technik —
das konstruktive Element, wie wir es kurzweg nennen
dürfen, in den Vordergrund stellen, so dürfen wir
doch nicht vergessen, dass bei der „Entstehung
der Arten" auch der Boden, auf dem die Keime
wachsen sollen, ein wichtiger Faktor ist. Ein Volk,
das im Schatten der Dome und im Sonnenglanz der
Paläste aufgewachsen ist, darf und muss andere An-
sprüche erheben, als die Kinder der Neuen Welt.
Die neuen konstruktiven Grundformen, die unsere
Zeit fordert, sind nicht das letzte Wort der Kunst-
sprache; sie geben Stamm und Astwerk, an dem
aber mancherlei Blüten treiben können. Auch
Amerika begnügt sich nicht mit seinen konstruktiven
Formen, sondern umkleidet sie in dekorativer Weise.
Als bequemstes Mittel bieten sich die Naturformen,
Blumen und Blätter, zumeist in der schlichten Stili-
sirung, wie sie Japan uns zeigt; oder man greift
auch unbedenklich zu den Ornamenten der alteu
Stilepochen, verwendet diese aber nicht mit histo-
rischer Treue, sondern als beliebige Zierform, welche
hier unter Umständen eine ganz neue Bedeutung
bekommt, gerade so wie in der jugendfrischen
Sprache eines ungelehrten Volkes ein Fremdwort
ohne Rücksicht auf Orthographie und Grammatik
mundgerecht und dadurch zum lebendigen Eigentum
gemacht wird.
Auf diesem Weg werden wir den Amerikanern
schwerlich folgen können, wir sind zu gut in der
Grammatik gedrillt, um nai'v mit dem alten Vorrat
zu spielen.
Aber wenn auch das Gepäck, welches uns das
Studium auf die Schultern legt, etwas lästig ist, so
ist es doch nicht unverwendbar. Wir werden nach
wie vor aus der Kenntnis der alten Kunst unsere
beste Lebenskraft ziehen können.
Die Vorstellung, dass die alte Kunst im Gegen-
satz zur modernen Konstruktion nur eine Fülle von
historisch geordneten Ornamenten herzugeben ver-
möge, ist grundverkehrt. Jede große Kunstperiode
ist in ihrer Weise konstruktiv, nur sind wir meist
zu träge bis zu dem konstruktiven Kerne vorzu-
dringen. Für die griechische Kunst ist dieses kon-
struktive Prinzip durch Böttchers Tektonik erwiesen.
Aber noch heute wird ein Zeichner, dem die Auf-
gabe zufällt, Tische und Stühle im griechischen Stile
zu erfinden, in den meisten Fällen die Füße wie
Säulen, die Leisten wie Gebälk behandeln. Nun
vergleiche man die auf den Vasenbildern erhaltenen
Formen der griechischen Stühle, Tische und Kästen!
Sie sind absolut frei von architektonischem Detail,
schlank, glatt und tischlergerecht wie nur irgend