NEUE WEGE.
ein amerikanisches Möbel unserer Tage. Es ist kein
Zufall, dass die modernen Amerikaner vor nichts
so großen Respekt haben, als vor den alten Griechen,
welche unser kringelfreudiges Europa zur Zeit mit
Achselzucken behandelt.
Dass die Gotik durchaus konstruktiv verfährt,
ist bekannt; bis vor kurzem haben die Gotiker die
Konstruktion als ihr Privileg angesehen. Sicherlich
sind die einfachen Gebrauchsmöbel der Gotik vor-
zügliche Lehrmeister, während die reichen Kirchen-
möbel in ihrer Nachahmung der großen Architektur
aus guten Gründen gar nicht konstruktiv sind. Aber
auch in der Renaissance finden wir ein ähnliches
Verhältnis. Wir sehen und beachten immer nur die
überreichen Stücke, die uns in Kirchen und Palästen
erhalten sind, und suchen diese Formen in unseren
Wohnzimmern nachzuahmen. Wir übersehen aber
die — allerdings selten erhaltenen — Geräte des täg-
lichen Gebrauchs, welche vollkommen einfach, voll-
kommen konstruktiv sind. Das Merkwürdigste aber
bleibt, dass das als Kringelkram verrufene Rokoko
in tiefstem Sinne konstruktiv ist, vollkommen so
stark als die Gotik, aber weit geistreicher und be-
weglicher.
Das sind die Punkte, auf welche das Studium
Europas losgehen muss, um sein künstlerisches Erb-
gut wahrhaft zu verwerten. Mit diesen Waffen aus-
gerüstet brauchen wir uns nicht in die Gefolgschaft
der Neuen Welt zu begeben. Wir können und sollen
uns von dem frischen Atemzug, der zu uns herüber-
weht, aufrütteln lassen aus dem Fettpolster von
Kringeln, welche die erfindende Kraft ersticken. Wir
sollen uns klar werden, dass wir nun und nimmer-
mehr die Verpflichtung haben, in dem Kostüm einer
bestimmten Epoche, sei es Renaissance oder Rokoko,
herumzulaufen, dass die historischen Studien uns
immer nur zu einem Verständnis der bildnerischen
Gesetze, aber nie zu bloßer Nachahmung führen
sollen. Was wir auch schaffen, die erste und uner-
lässliche Grundbedingung sei die höchste Zweck-
angemessenheit, die vollkommene Anpassung und
damit Ausnutzung von Material und Technik.
So lange wir uns in der reinen Handarbeit be-
wegen und Stücke arbeiten, die ihren Charakter seit
Jahrhunderten nicht verändert haben, sei es nun ein
Messkelch oder ein Spitzentuch, so können wir uns
unter Umständen mit gutem Recht völlig an alte
Vorbilder halten, mögen sie aus Byzanz oder Brüssel
stammen. Selbstverständlich ist auch die Berech-
tigung der historischen Formen, wenn es sich um
die Ergänzung vorhandenen Bestandes handelt. Der
erbgesessenen Vornehmheit schließt sich die Anti-
quitätenliebhaberei an, welche alte Kunstwerke zu-
sammenträgt und verbindender Glieder bedarf. Diesen
Ergänzungsarbeiten verdankt das Kunstgewerbe vor-
zugsweise die Wiederaufnahme alter Techniken.
Aber derartige Fälle kostbarer Arbeit sind ver-
einzelt gegenüber dem großen Betriebe der modernen
Industrie. Schrittweise drängt uns die Veränderung
der Lebensformen und der Herstellungsweise, drängt
uns vor allem die Fesselung der Naturkräfte in neue
Bahnen.
Wer nach wie vor darauf schwört, dass ein
moderner Kronleuchter wie ein alter Kerzenleuchter
aussehen muss, wer die Gasflammen auf imitirte
Kerzen setzt, und, wenn die Elektrizität antritt, die
elektrischen Birnen auf die Gashäbne schraubt und
dann noch stolz darauf ist, dass sein Kronleuchter
reines Louis XV oder Louis XVI darstellt: dem ist
nicht zu helfen.
Aber auch dem ist nicht zu helfen, der die
moderne Maschinenarbeit lediglich wie einen bösen
Feind betrachtet, vor dem er die Augen zumacht, um
sich in das Heiligtum der reinen Handarbeit zu
flüchten. Möge er bedenken, dass diese Fabrik-
industrie Kunst und Behagen, die sonst nur den
obersten Schichten vorbehalten waren, in die Milli-
onen überträgt. Ein Stilfehler in dem Kelch, in
dem Spitzentuch kränkt kaum einen einzelnen; eine
ungesunde Form in der Modellkammer einer Fabrik
untergräbt den Formensinn von Hunderttausenden.
Bequem oder nicht: unsere Arbeit hat einzusetzen
auf dem Boden des praktischen Lebens unserer Zeit,
hat diejenigen Formen zu schaffen, welche unseren
Bedürfnissen, unserer Technik, unserem Material ent-
sprechen. Wenn wir uns auf diesem Wege zu einer
Form der Schönheit im Sinne unseres naturwissen-
schaftlichen Zeitalters emporarbeiten, so wird sie nicht
aussehen wie die fromme Schönheit der Gotik oder
die üppige der Renaissance, aber sie wird aussehen
wie die vielleicht etwas herbe Schönheit aus dem
Schlüsse des neunzehnten Jahrhunderts, und das ist
es, was man von uns verlangen kann.
JULIUS LESSING.
ein amerikanisches Möbel unserer Tage. Es ist kein
Zufall, dass die modernen Amerikaner vor nichts
so großen Respekt haben, als vor den alten Griechen,
welche unser kringelfreudiges Europa zur Zeit mit
Achselzucken behandelt.
Dass die Gotik durchaus konstruktiv verfährt,
ist bekannt; bis vor kurzem haben die Gotiker die
Konstruktion als ihr Privileg angesehen. Sicherlich
sind die einfachen Gebrauchsmöbel der Gotik vor-
zügliche Lehrmeister, während die reichen Kirchen-
möbel in ihrer Nachahmung der großen Architektur
aus guten Gründen gar nicht konstruktiv sind. Aber
auch in der Renaissance finden wir ein ähnliches
Verhältnis. Wir sehen und beachten immer nur die
überreichen Stücke, die uns in Kirchen und Palästen
erhalten sind, und suchen diese Formen in unseren
Wohnzimmern nachzuahmen. Wir übersehen aber
die — allerdings selten erhaltenen — Geräte des täg-
lichen Gebrauchs, welche vollkommen einfach, voll-
kommen konstruktiv sind. Das Merkwürdigste aber
bleibt, dass das als Kringelkram verrufene Rokoko
in tiefstem Sinne konstruktiv ist, vollkommen so
stark als die Gotik, aber weit geistreicher und be-
weglicher.
Das sind die Punkte, auf welche das Studium
Europas losgehen muss, um sein künstlerisches Erb-
gut wahrhaft zu verwerten. Mit diesen Waffen aus-
gerüstet brauchen wir uns nicht in die Gefolgschaft
der Neuen Welt zu begeben. Wir können und sollen
uns von dem frischen Atemzug, der zu uns herüber-
weht, aufrütteln lassen aus dem Fettpolster von
Kringeln, welche die erfindende Kraft ersticken. Wir
sollen uns klar werden, dass wir nun und nimmer-
mehr die Verpflichtung haben, in dem Kostüm einer
bestimmten Epoche, sei es Renaissance oder Rokoko,
herumzulaufen, dass die historischen Studien uns
immer nur zu einem Verständnis der bildnerischen
Gesetze, aber nie zu bloßer Nachahmung führen
sollen. Was wir auch schaffen, die erste und uner-
lässliche Grundbedingung sei die höchste Zweck-
angemessenheit, die vollkommene Anpassung und
damit Ausnutzung von Material und Technik.
So lange wir uns in der reinen Handarbeit be-
wegen und Stücke arbeiten, die ihren Charakter seit
Jahrhunderten nicht verändert haben, sei es nun ein
Messkelch oder ein Spitzentuch, so können wir uns
unter Umständen mit gutem Recht völlig an alte
Vorbilder halten, mögen sie aus Byzanz oder Brüssel
stammen. Selbstverständlich ist auch die Berech-
tigung der historischen Formen, wenn es sich um
die Ergänzung vorhandenen Bestandes handelt. Der
erbgesessenen Vornehmheit schließt sich die Anti-
quitätenliebhaberei an, welche alte Kunstwerke zu-
sammenträgt und verbindender Glieder bedarf. Diesen
Ergänzungsarbeiten verdankt das Kunstgewerbe vor-
zugsweise die Wiederaufnahme alter Techniken.
Aber derartige Fälle kostbarer Arbeit sind ver-
einzelt gegenüber dem großen Betriebe der modernen
Industrie. Schrittweise drängt uns die Veränderung
der Lebensformen und der Herstellungsweise, drängt
uns vor allem die Fesselung der Naturkräfte in neue
Bahnen.
Wer nach wie vor darauf schwört, dass ein
moderner Kronleuchter wie ein alter Kerzenleuchter
aussehen muss, wer die Gasflammen auf imitirte
Kerzen setzt, und, wenn die Elektrizität antritt, die
elektrischen Birnen auf die Gashäbne schraubt und
dann noch stolz darauf ist, dass sein Kronleuchter
reines Louis XV oder Louis XVI darstellt: dem ist
nicht zu helfen.
Aber auch dem ist nicht zu helfen, der die
moderne Maschinenarbeit lediglich wie einen bösen
Feind betrachtet, vor dem er die Augen zumacht, um
sich in das Heiligtum der reinen Handarbeit zu
flüchten. Möge er bedenken, dass diese Fabrik-
industrie Kunst und Behagen, die sonst nur den
obersten Schichten vorbehalten waren, in die Milli-
onen überträgt. Ein Stilfehler in dem Kelch, in
dem Spitzentuch kränkt kaum einen einzelnen; eine
ungesunde Form in der Modellkammer einer Fabrik
untergräbt den Formensinn von Hunderttausenden.
Bequem oder nicht: unsere Arbeit hat einzusetzen
auf dem Boden des praktischen Lebens unserer Zeit,
hat diejenigen Formen zu schaffen, welche unseren
Bedürfnissen, unserer Technik, unserem Material ent-
sprechen. Wenn wir uns auf diesem Wege zu einer
Form der Schönheit im Sinne unseres naturwissen-
schaftlichen Zeitalters emporarbeiten, so wird sie nicht
aussehen wie die fromme Schönheit der Gotik oder
die üppige der Renaissance, aber sie wird aussehen
wie die vielleicht etwas herbe Schönheit aus dem
Schlüsse des neunzehnten Jahrhunderts, und das ist
es, was man von uns verlangen kann.
JULIUS LESSING.