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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 7.1896

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Jessen, Peter: Die Kunst im Plakatwesen
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https://doi.org/10.11588/diglit.4885#0099
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DIE KUNST IM PLAKATWESEN.

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in diesen Tagen hat er zum erstenmale einen großen
malerischen Auftrag erhalten, einige dekorative Bilder
für das Pariser Ratbaas; ein Beweis, wie hoch man
seine Thätigkeit schätzt. Nichts ist lehrreicher, als
seine älteren Arbeiten mit seinen neueren Schöpfungen
zu vergleichen.

Zuerst die Größe. Cheret's ältere Blätter waren
meist von geringerem Format und dienten mehr als
Anschläge im Innenraume, an den Eingängen der Theater
und an anderen Stellen, wo sie aus der Nähe gelesen
werden konnten. Der Gebrauch, ganze Häuservvände,
Baugerüste, Brücken- und ähnliche weite und hohe
Flächen zu bekleben, ist erst in den siebziger und
achtziger Jahren aus London nach Paris gekommen;
noch heute sind die englischen und amerikanischen
Plakate im Durchschnitt größer als die französischen.
Tn Paris ist das üblichste Format 82 : 61 cm oder
doppelt so hoch, 122 : 82 cm. Der Künstler kann also,
wenn er will, mit lebensgroßen Figuren arbeiten. Jeder
Maler weiß, welch ein Sporn das ist, welch ein Schutz
gegen kleinliche Buntheit; einer lebensgroßen Figur
steht der Künstler wie einem Stück seiner Selbst
gegenüber. Es drängt ja ein Plakat, das hoch über
der Straße angeschlagen werden soll, von selbst auf
große Maßstäbe hin, für die Figuren, für die Motive,
für die Schrift.

Auf den früheren Reklamebildern, auch noch auf
Cheret's älteren Arbeiten, sollte viel zu lesen und mög-
lichst viel zu sehen sein; bei den Nahrungs- oder Genuß-
mitteln wurden alle Vorzüge und Wirkungen, bei den
Theatern die Stunden, die Preise, die Programme auf-
gezählt. Es hat lange Arbeit und gewiss manche Kämpfe
gekostet, bis nicht nur der Künstler selbst, sondern auch
seine Besteller einsahen, dass nirgends so wie hier der
Grundsatz gilt: die Kürze ist die Seele des Witzes. Denn
was will der heutige Anschlag? Den hastenden Blick
im verwirrenden Getriebe des Straßenlebens auf sich
ziehen, die Neugier wecken, sich dem Gedächtnis auf-
drängen, sich einprägen und doch jedesmal wieder aufs
Neue reizen und, wenn möglich, sogar zu längerer Be-
trachtung verlocken. Also müssen zunächst einmal Schrift
und Bild des Anschlags so groß und deutlich sein, dass
sie auf weite Entfernung zu sehen sind und sich neben
allem behaupten, was das Auge sonst noch auf sich
zieht. Dafür ist eine Zeile Schrift besser als zehn
Zeilen, ein Wort besser als ein Satz; es gilt vor allem
übrigen, sich auf das Unentbehrliche zu beschränken.
Wir wissen, wie auf diese Art einzelne Namen und
Worte auch ohne Bild sich durchsetzen können. Wem
der Name einer Firma oder ihres Fabrikates sich ein-
geprägt hat, der wird sich über die Einzelheiten, über
den Preis, die Adresse u. a., auch durch Anzeigen und
andere kleinere Mittel unterrichten lassen oder bei Be-
darf nachfragen. In der Straßenreklame sind alle solche
Details nicht nur überflüssig, sondern schädlich, da sie

der Hauptsache den Platz wegnehmen. Das weiß man
in London und Paris längst.

Daraus ergiebt sich auch die Art der Schrift. Dass
die lateinischen Lettern klarer und daher weiter sicht-
bar sind als die deutschen kann jedermann durch einen
Versuch feststellen. Aber es liegt auch auf der Hand,
dass ein Wort in Minuskeln mit großem Anfangsbuch-
staben nicht so weithin zu sehen ist, wie ein Wort,
das nur aus gleich großen Versalien besteht. Man sagt
wohl dagegen, dass diese Versalien schwerer zu ent-
ziffern seien. Für den ganz Ungeübten mag das gelten;
aber wie leicht man sich diese Übung erwirbt, haben
wir in den letzten Jahren an uns selber erfahren.
Denn unaufhaltsam und kaum bemerkt dringt ja die
lateinische Schilderschrift auch bei uns vor.

Auch Cheret's Schrift, an der übrigens ein eigener
Zeichner, der kürzlich verstorbene Madare, mitarbeitete,
war früher reicher, bunter, ähnlich wie noch auf dem
S. 82 abgebildeten Radfahrer-Plakat der Firma L'eten-
dard francais. Mehr und mehr hat der Künstler gegenüber
der Schrift die Figur heraus gearbeitet. Noch vor zehn
Jahren waren beide meist gleichwertig gemischt. Jetzt
ist die Schrift nur Begleitung, die Figur durchaus die
Hauptsache; auf sie soll sich der Blick richten; das
Plakat soll gesehen werden, nicht gelesen.

Wie wichtig wäre es für unsere Kunst, wenn das
Volk sich gewöhnte, mehr zu sehen und weniger zu
lesen. Noch suchen wir bei jedem Bilde nach dem Text
oder der Unterschrift, bei jedem Symbol oder Wahr-
zeichen nach dem Namen; noch fesselt jedes aufdring-
liche Wort unser Auge, während wir an hundert Formen
blind vorübergehen; kein Firmenschild auf unserem täg-
lichen Wege ist uns fremd, während wir über den
Schmuck der Gebäude, an denen wir täglich vorbei-
gehen, uns oft Jahre lang nicht Rechenschaft geben.
Unser Auge scheint eigentlich nur für das Gedruckte
empfänglich.

Hier kann neben dem erfreulich wachsenden Bilder-
wesen unserer Bücher und Zeitungen auch das Plakat
gute Dienste leisten. Cheret hat den Parisern in der
That eine neue Welt geöffnet. Seine Gestalten gehören
heute zum Bilde der Stadt so gut wie hundert andere
Züge, ohne die wir uns Paris nicht denken könnten.
Und diese ganze Gestaltenwelt ist seine Welt, seine
eigene Schöpfung; er hat sie niemandem abgesehen.

Es ist ein lustiger und nicht einwandfreier Kreis, in
dem seine Gestalten sich bewegen, die Welt des Ballets,
der Singspielhallen, der großstädtischen Tanzböden, die-
selbe Welt, für die ein großer Teil seiner Reklamebilder
geschaffen worden ist. Jugendliche Dämchen im knappen
Gewände, den Busen weit geöffnet, die Kleider keck ge-
schürzt, mit schlanker Taille und zierlichen Füßchen; die
Formen schwellend, weich, pikant; die Bewegungen von
erkünstelter Grazie, selbstbewusst, kokett; so gaukeln,
tanzen, hüpfen und schweben sie; so machen sie sich

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