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DIE KUNSTGEWERBESCHULE IN ELBERFELD
Ölgemälde, Landschaft Maler und Fachlehrer J. Mermagen
GESCHMACKSBEKUNDUNG ALS LEBENSFORM
VON OTTO SCHULZE
Direktor der Handwerker- und Kunstgewerbeschule in Elberfeld
Pflanzenstudie Maler und Fachlehrer J. Mermagen
WAS wir im Sinne dieses Themas als Geschmack
aufzufassen haben, das umfaßt die Summe
aller Empfindungen, Wahrnehmungen und
Äußerungen im Bereiche unseres Genußlebens. Es
ist durchaus kein ungewöhnliches Wort, wenn wir
von Kunstgenuß, Lebensgenuß usw. sprechen und
sagen: »er verschlingt das Kunstwerk mit den Augen,
erquickt sich an heiterer Musik, trinkt gleichsam den
perlenden Fluß der Melodien, berauscht sich an den
flüssigen Linien der Architektur oder — verdirbt sich
den Magen an schlechter Lektüre.« Volle Geschmacks-
bekundung, also Geschmacksintensität ist demnach die
Summe der Sinnesleistung im persönlichen Verhalten
dem Schönen und Häßlichen gegenüber. Guter oder
schlechter Geschmack äußert sich also gewissermaßen
als natürliche Ausdrucksform, als Lebensform aus
Veranlagung, Erziehungs- und Lebensart wie auch
Bildungsgrad heraus. Er muß sich verschieden äußern
aus rein sozialen, beruflichen und materiellen Inter-
essen; der gute Geschmack kann angeboren, aber auch
anerzogen sein. Geschmack ist an sich nicht fest-
gelegt noch begrenzt; er kann sich ganz verschieden
äußern, und zwar von derselben Person auf den
verschiedensten Gebieten sehr sicher, aber auch
schwankend und abweichend. Geschmack beruht auf
Erprobung und Erfahrung, auf Kennerschaft. Guter
Geschmack fordert disziplinierte Sitten, Wohlanständig-
keit, normale Nerven, gesunde Sinne, Herrschaft über
sich selbst, Immunität gegenüber dem Geschmacke
der Menge und des Alltags, aber auch Nachsicht und
Duldsamkeit für den Geschmack anderer. Der gute
Geschmack ist demnach ebenso sehr höchste Potenz
DIE KUNSTGEWERBESCHULE IN ELBERFELD
Ölgemälde, Landschaft Maler und Fachlehrer J. Mermagen
GESCHMACKSBEKUNDUNG ALS LEBENSFORM
VON OTTO SCHULZE
Direktor der Handwerker- und Kunstgewerbeschule in Elberfeld
Pflanzenstudie Maler und Fachlehrer J. Mermagen
WAS wir im Sinne dieses Themas als Geschmack
aufzufassen haben, das umfaßt die Summe
aller Empfindungen, Wahrnehmungen und
Äußerungen im Bereiche unseres Genußlebens. Es
ist durchaus kein ungewöhnliches Wort, wenn wir
von Kunstgenuß, Lebensgenuß usw. sprechen und
sagen: »er verschlingt das Kunstwerk mit den Augen,
erquickt sich an heiterer Musik, trinkt gleichsam den
perlenden Fluß der Melodien, berauscht sich an den
flüssigen Linien der Architektur oder — verdirbt sich
den Magen an schlechter Lektüre.« Volle Geschmacks-
bekundung, also Geschmacksintensität ist demnach die
Summe der Sinnesleistung im persönlichen Verhalten
dem Schönen und Häßlichen gegenüber. Guter oder
schlechter Geschmack äußert sich also gewissermaßen
als natürliche Ausdrucksform, als Lebensform aus
Veranlagung, Erziehungs- und Lebensart wie auch
Bildungsgrad heraus. Er muß sich verschieden äußern
aus rein sozialen, beruflichen und materiellen Inter-
essen; der gute Geschmack kann angeboren, aber auch
anerzogen sein. Geschmack ist an sich nicht fest-
gelegt noch begrenzt; er kann sich ganz verschieden
äußern, und zwar von derselben Person auf den
verschiedensten Gebieten sehr sicher, aber auch
schwankend und abweichend. Geschmack beruht auf
Erprobung und Erfahrung, auf Kennerschaft. Guter
Geschmack fordert disziplinierte Sitten, Wohlanständig-
keit, normale Nerven, gesunde Sinne, Herrschaft über
sich selbst, Immunität gegenüber dem Geschmacke
der Menge und des Alltags, aber auch Nachsicht und
Duldsamkeit für den Geschmack anderer. Der gute
Geschmack ist demnach ebenso sehr höchste Potenz