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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,4.1910

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Heft 19 (1. Juliheft 1910)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9020#0069
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nachlässigt, vielfach ausgebeutet.
Von diesen Frauen wird die
Mutterschaft nicht nur mit
Schmerzen und Sorgen erkauft.
Der Preis, den sie dafür zn
zahlen habcn, ist Not und Elend,
Mangel am Notwendigen, oft am
Unentbehrlichen.

Die besitzlosen Klassen — nicht
nur ihre unterste Schicht, die
dauernd der öffentlichen Armen-
pflege anhcimgefallen ist, die ihre
wirtschaftliche Selbständigkeit ohne-
hin verloren hat — sondern alle,
die von ihrem Lohn keine erheb-
lichen Ersparnisse für Zeiten außer-
gewöhnlichen Bedarfs machen kön-
nen, sind nicht imstandc, das Be-
dürfnis der Fran nach Schutz und
Pflege zur Zeit der Mutterschaft
aus eigener Kraft zu be-
friedigcn. Die Frauen unsres Vol-
kes sind gefährdet, und in ihnen
ist es die kommende Generation,
solange nicht Staat und Gesell-
schaft, Rechtsordnung und Wohl-
fahrtspflege diesem Bedürfnis der
Mutter nach Schutz in wirksamer
Weise nachkommcn.

Man muß verschiedene Kate-
gorien schutzbedürftiger Mütter
unterscheiden, wenn man die For-
derung nach eincr besseren und
ausreichenden Vcrsorgung dcr
Frauen zur Zeit der Mutterschaft
erhebt. Einmal die Frauen,
die regelmäßig einer Er-
werbsarbeit nachgehen
müssen. Ihnen fehlen, wenn
sie durch die Geburt eines Kindcs
zeitweilig arbeitsnnfähig werden,
schon die notwendigen Ilnter-
haltsmittel für sich und die
Angehörigen. Um so weniger
können sie sich die notwendigen
Pflege mittel beschaffen. Sie
haben mcist niemand, der ihnen
auch nur einige Handreichungen,
etwas persönliche Pflege sowic
Hilfe im Hausstand leistct, solange

sie schonungsbedürftig sind. Sie
haben kein Heim, in dem ihnen
auch nur für wenige Stunden
oder Tage ein Raum zur Ver-
fügung stcht, in dem sie ungestört
von Kinderlärm das Bett hüten
können. Das sind die Frauen,
die man am dritten Tag nach der
Geburt eines Kindes am Herd,
am achten am Waschfaß finden
kann; die Frauen, die in jugend-
lichem Alter verbraucht aussehen,
die fast durchgängig mit schweren
Anterleibsleiden behaftet sind. —
Nicht ganz so trostlos, aber immer-
hin düster genug sieht es in der
Wochenstube der Frauen aus,
deren Mann wohl für den ge-
wöhnlichen Bedarf einer Familie
sorgen kann, der aber nicht genng
aufbringt, um der Frau für diese
schwere Zeit Ruhe uud Wartung
beschaffen zu können.

Die ganze Tragik, die das
Mutterschicksal nmschließen kann,
wird aber durch die Gestalt der
ledigen Mntter repräsentiert.
Unstet und flüchtig, wie ein ge-
hetztes Wild, muß sie meist ihre
Angehörigen oder Arbeitgcbcr ver-
lassen, in einer Zeit, in der sie
Anhalt, Fürsorge und Schutz be-
sonders nötig hat. Die un-
beschreiblichc Härte ihres Loses
macht das Pathos begreiflich, mit
dem in den letzten Iahren für
deu Schutz der ledigen Mutter
gekämpft worden ist, wenngleich
darüber die Not und die Schutz-
bedürftigkeit der verheirateten
Muttcr nicht vergessen werdcn soll.

Es ist charakteristisch für die
Entwicklung sozialcr Fürsorgebe-
strebungen in Deutschland, daß die
wertvollste Initiative zu einem
Schntz der Muttcr von dcr Ge-
setzgebung ausgcgangcn ist. Der
zurzeit geltende staatliche Mutter-
schntz gliedert sich in prohibi-
tive und positive Maßregeln:

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