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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,4.1910

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Heft 24 (2. Septemberheft1910)
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Rath, Wilhelm: Marie von Ebner-Eschenbach: zu ihrem achtzigsten Geburtstag
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https://doi.org/10.11588/diglit.9020#0424
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erkennen vermag. Aber auch in dergleichen strittigen Fällen wird
es nicht zu widerlegen sein, daß in Marie Ebners Kunst höchste
Wahrheit lebt. Wo es not tut, hat sie die Kraft auch znr bittersten
Herbheit. And wenn es möglich wäre, daß auf sozusagen statistischem
Weg an einzelnen Stellen ein gewisser Aberschuß an Edelgehalt
nachgewiesen würde, so wäre dagegen geltend zu machen: diese Dich-
terin, die wir Deutschen mit freudigem Stolz unser nennen, hat auf
ihrer Seite die höchst-entscheidende Wahrheit, die Wahrheit des
reicheren Herzens.

Ansre liebe Frau von Ebner — wie man sie mit einem guteN
Beiklang altvolkstümlicher Verehrung genannt hat — vollendet nun,
am s3. September, das achte Lebensjahrzehnt. Nicht als Literatur-
veteranin, deren Siege weit, weit hinter unsrer Zeit liegen, sondern
als wirkliche Genossin unsrer Zeit, als eine in der Tat noch führende
Persönlichkeit. Ia, sie gehört im Grunde noch lange nicht zu den
alten unter den mitlebenden Dichtern, da sie mit fünfundvierzig
Iahren ihre ersten Erzählungen herausgab, seit ihrem fünfzigsten
Iahr erst der deutschen Sffentlichkeit bekannt wurde. Eine ganz
merkwürdige Erscheinung: die Achtzigjährige trat vor drei Iahr-
zehnten gleichzeitig — nur gleichzeitig — mit den Iüngstdeutschen
auf den Plan und hat die allermeisten von ihnen, im zwiefachen Sinn
oder mindestens im literaturgeschichtlichen, rüstig überlebt. Die Parole
„Erst das Talent loslassen, dann vielleicht einmal das Ich entwickeln!"
— diese Parole der Modernen von gestern (und auch der Wortkünst-
ler von heut) scheint also tatsächlich nicht die rechte zu sein.

Marie von Ebner hatte durch ihre Herkunft aus vornehmem und
wohlhabendem Hause vieles vor vielen voraus. In ihren Anfängen
jedoch erwuchsen ihr aus der bevorzugten Lebensstellung nur Hem-
mungen ihres geistigen und sonderlich ihres dichterischen Fortkom-
mens. Dazu kam manches Widerstrebende des Landes, in dem sie
aufwuchs.

Die Kinder des gräflichen Haufes Dubsky, namentlich die beiden
Mädchen, die noch vorm Erwachen des Bewußtseins ihre rechte
Mutter verloren, waren fast ausschließlich der Erziehungskunst fremd-
ländischer Gouvernanten anvertraut, die größtenteils zu dem verant-
wortungsvollen Amt nicht befugt waren. Als in Mariens kindlicher
Phantasie die Vorzeichen künftigen Künstlertums zutage traten, wurden
sie nicht bloß übersehen, sondern mißdeutet und bekämpft. Die frühen
dichterischen Versuche waren den nächsten Angehörigen jahrelang ein
Gegenstand der Besorgnis, ja geradezu einer unbegreiflich verstockten
Antipathie. Als die Dichterin nachmals, schon in hohem Lebens-
alter, das Erinnerungsbuch „Meine Kinderjahre" schrieb, zitterte noch
die Bitternis ihrer allerersten Dichtererfahrungen nach: „Von dem
Schmerz und dem Groll, den diese stumme Ablehnung mir verursachte,
habe ich nie etwas verraten, und wie oft sollte ich sie erleiden!"

Ihr Iugendland — so schwer wir es uns von einer heute noch
Schaffensfähigen vorstellen mögen — ihr Iugendland war das vor-
märzliche Altösterreich. Von Geburt an gehörte sie zu einer Aristo-
kratie, die zwar in der Politik freieren Ideen nicht ganz unzugänglich

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